Fratzenmond: Katinka Palfys dritter Fall (German Edition)
eigenartiges Gefühl, das sie ergriff. Sie las die Titel der Bände, die Ida übereinander und in zwei Reihen in die Bücherregale geschichtet hatte.
»Aber nun bin ich doch fast doppelt so alt geworden wie ich damals war, als ich meinte, ich hätte nichts dagegen einzuwenden, hinübergerudert zu werden. Mögen Sie Beethoven?«
Katinka nickte.
»Der Meister sagte einmal: O, es ist so schön, das Leben tausendmal leben! Können Sie sich das vorstellen? Wie er es ausrief, trunken vor Glück? Wahrscheinlich war er gerade im Liebesrausch.«
Katinka langte nach einem Gedichtband. »Rabindranath Tagore«, murmelte sie. »Den mag ich auch.«
»Nicht wahr? Er bekam 1913 den Literaturnobelpreis. Das war aber definitiv vor meiner Zeit. Seine Lyrik hatte ich immer auf meinen Reisen dabei. Sie hat mich mein Leben lang inspiriert.«
Ida trat nahe an Katinka heran.
»Ich verrate es nur Ihnen. Aber ich habe viele Menschen auf meinen Reisen kennen gelernt. Hier«, sagte sie und wies auf einen breiten Schreibtisch aus Eichenholz. »Hier bewahre ich meine Tagebücher auf. Kennen Sie Moleskine? Die berühmtesten Künstler haben diese Kladden als Reisenotizbücher benutzt. Tja, jetzt sind all die Jahre zwischen Pappdeckel gebannt. Dabei weiß ich nicht mal, ob jemand meiner eventuellen Erben die Muße finden wird, darin zu schmökern.«
Ida kicherte verschwörerisch und fummelte an ihrem Halskettchen.
»Sehen Sie?«
Ein kleiner goldener Schlüssel schimmerte zwischen ihren kurzen Fingern. »Der Zugang zu den Erinnerungen einer alten Schachtel.« Vielsagend deutete sie auf die Tür des rechten Seitenteils. Sie ließ den Schlüssel wieder unter ihrer Bluse verschwinden und klatschte in die Hände. »Haben Sie alles gesehen? Gehen wir wieder nach unten. Es ist gleich zehn. Bestimmt kommt er bald geritten.«
Sie beugte sich zum Schalter einer Stehlampe hinunter. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Katinka eine breite Laufmasche in Ida Schencks grauer Strumpfhose. Dann erlosch das Licht.
Schweigend folgte Katinka der alten Dame nach unten. Alle paar Minuten fragte sie sich erneut, ob Ida Schenck verrückt war oder nicht, und jedes Mal kam sie zu einer anderen Einschätzung. Nach einer kurzen Inspektion eines unaufgeräumten, muffigen Kellers ging sie durchs Wohnzimmer, erschrak, als eine eigentümliche Schlingpflanze sie streifte, und trat in den Garten hinaus. Wenn es stimmte und der Spuk jeden Abend zwischen 22 und 22 Uhr 30 begann, musste es bald soweit sein. Ob sie Hufgetrappel hören würde? Würde der Bamberger Reiter zu Pferd erscheinen? Ida hatte sein Kommen bisher weder gehört noch gesehen. Sie behauptete, er tauche einfach aus dem Dunkel auf.
Katinka atmete tief die frische Herbstluft ein. Sie war schwer von Feuchte und Erdgeruch. Ein perfekter Halbmond hing am Nachthimmel, wie eine in der Mitte durchgebrochene Calciumtablette. Einzelne Wolkenfetzen fegten über ihn hinweg.
Wenn ich mir eines wünsche, dachte Katinka, dann dass ich den Mond mal wieder scharf sehe. Trotz Brille nahm sie die halbe weiße Scheibe verschwommen wahr, wie ausgefranst. Die Kontaktlinsen standen ganz oben auf ihrer Erledigen-Liste, und mit Ida Schencks Honorar in diesem Oktoberspuk würde sie sich welche leisten können. Ihre private Detektei, beinahe nun ein Jahr als Unternehmen angemeldet, lief nach anfänglichen Startschwierigkeiten sehr gut. Beigetragen hatte dazu, dass sie in Zusammenarbeit mit Hauptkommissar Harduin Uttenreuther im vergangenen Sommer Bamberg vor einer Katastrophe bewahrt hatte. Ein Wahnsinniger hatte geplant, mit Hilfe eines biologischen Kampfgiftes die größte Kirchweih, das Partyereignis der Stadt, hopszunehmen. Viele tausend Menschen hätten sterben können. Die Presse überschlug sich in den Wochen danach, und die herausragende Kooperation zwischen Kripo und privater Ermittlerin wurde hoch gelobt. Inzwischen waren fast zwei Monate vergangen, und Katinka war so gut wie ausgebucht. (*Kirchweihmord)
Ein leises Rascheln neben ihr ließ sie zusammenfahren.
»Schon wieder Vishnu!«, flüsterte sie. Der Kater schritt würdevoll durch einen Haufen trockenen Laubs. »Wo du nur immer herkommst. Kannst du durch Wände gehen?«
Katinka machte einen Kontrollgang durch den dunklen Garten. Die Stille, nur unterbrochen durch das Aneinanderschlagen der beinahe kahlen Zweige bei einem plötzlichen Windstoß, kam ihr friedlich vor. Weit und breit war niemand zu sehen. Kein Reiter, kein Mensch, nicht einmal mehr Vishnu. Sie blieb
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