Fratzenmond: Katinka Palfys dritter Fall (German Edition)
Schuld vor einem bestimmten ideologischen System. Nun frage ich mich jedoch, ganz rational, in welchen Kontexten der Begriff ›Sünde‹ nicht mehr greift, weil man sich dem System entzogen hat oder ihm durch äußere Umstände entzogen wurde. Der Genuss von Alkohol beispielsweise kann dazu führen, dass eine Person, die eine Straftat begangen hat, nicht vollständig schuldfähig ist. Darüber habe ich mir den Kopf häufig zerbrochen. Aber andere Zustände mildern die Sünde: Extreme Erregung sexueller Art und auch andere, wie Hass, extreme Angst, dann die Tatsache, selbst angegriffen zu sein. Was ist mit Bewusstlosigkeit? Und was ist mit Gedächtnisverlust? Schützen sie uns wirklich vor Verfolgung? Nicht nur durch die Strafbehörden, sondern auch durch die des inneren Richters? Ich weiß nicht, für wie tragfähig ich den Begriff ›Sünde‹ halten soll, und ebenso wenig den Begriff ›Schuld‹. Nicht eingerechnet ist Kalkül. Das Kalkül, etwas zu tun, was Schuld bedeutet. Die Entschlossenheit, es durchzuführen und die anschließende Tat.
12. Sybille
»Haben Sie Zeit?«
»Nein«, knurrte Hardo. »Aber wir können trotzdem telefonieren.«
»Wie geht es mit den Ermittlungen in Sachen Ida Schenck?«
»Wohnt der Stubentiger noch bei Ihnen?«
»Lassen Sie mich raten: Sie haben Roland Hasseberg festgenommen.«
»Ich täte nichts lieber. Ich würde ihn dann allerdings an ein afghanisches Gefängnis überstellen lassen.«
»Trinken wir mal ein Bier?«
»Heute Abend. 20 Uhr.«
Er legte auf.
Katinka steckte das Handy weg. Sie verließ das Café Abseits , zog die Regenjacke über und radelte ins Zentrum zurück. In ihrem Rucksack schlummerten Idas Tagebücher. Sie hatte eigentlich vorgehabt, die Kladden wieder an Ort und Stelle zurückzulegen und auch den Hausschlüssel abzugeben, aber je näher sie der Villa in der Hainstraße kam, desto unangenehmer wurde ihr der Gedanke. Statt dessen klingelte sie bei den Nachbarn. Die hießen Brühl und erweckten nicht den Eindruck, als hätten sie Freude am Leben.
»Kommen Sie rein. Aber ich kann Ihnen nichts erzählen, was nicht auch schon die Polizei wüsste«, sagte Brühl. Sein Hemdkragen stand weit offen. Seine Frau war neben ihn getreten. Sie trug ein Wollkleid und Birkenstocklatschen. Im Haus roch es nach abgestandenem Zigarettenrauch.
»Ich wollte nur wissen – haben Sie in den Wochen und Monaten vor dem Mord irgendwas beobachtet?«
Beide schüttelten synchron den Kopf.
»Sie war schon ein bisschen komisch, die Frau Schenck«, sagte Frau Brühl und wackelte mit den Zehen.
»Wieso?«
»Sie dürfen sich setzen!«, sagte Brühl. »Rauchen Sie? Nein? Also, sie hatte ja diesen Unfall und während sie im Krankenhaus war, sahen wir, meine Helga und ich, ab und zu in ihrem Haus nach dem r echten. Blumen gießen, Katze füttern.« Er spielte mit einem Feuerzeug herum.
Katinka wartete.
»Aber danach, da war sie nicht mehr dieselbe. Sie grübelte unheimlich viel.«
»Bestimmt war sie auch zuviel allein«, fügte Helga Brühl an. »Die Nichte zog ein und bald wieder aus. Schade.«
»Was meinen Sie damit, sie war nicht mehr dieselbe?«
Brühl klimperte mit den Fingern. In seinen Augen lag etwas Verbrauchtes, als frage er sich, was er hier, in diesem Haus, mit diesen Menschen ausgerechnet jetzt tat.
»Die Gehirnerschütterung scheint lange Nachwirkungen gehabt zu haben. Wissen Sie, Ida litt an Kopfschmerzen. Erst Monate später sagte sie, das war schon im Hochsommer, als es so heiß wurde, dass sie endlich mal wieder schmerzfrei wäre.«
»Wir haben uns darüber gewundert«, fiel seine Frau ein. »Bei der Affenhitze hatten alle normalen Leute Kopfschmerzen. Aber Ida ging es dann besser.«
»Jedenfalls, das waren nicht nur die Kopfschmerzen, die sie quälten. Sie wanderte oft nachts durch den Garten. Ziellos, wie ein Gespenst. Helga und ich, wir haben uns oft überlegt, ob sie vielleicht ein bisschen verrückt geworden war. Man weiß ja nicht, was in so einem Gehirn abgeht«, sagte er und tippte sich an den Schädel.
»Hatte irgendjemand von der Familie eine besondere Beziehung zu Ida? Oder gab es etwas anderes, das Ihnen aufgefallen wäre?«, insistierte Katinka, obwohl sie selbst wenig Ahnung hatte, was das sein sollte. Außer ein als Bamberger Reiter verkleideter Mörder.
»Ach, sie hatte schon ab und an mal Besuch.« Brühl tastete nach Zigaretten. Seine Frau sah ihn böse an. Er stand auf, entdeckte endlich eine Schachtel im Bücherregal. »Der Anwalt
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