Frau an Bord (Das Kleeblatt)
wieder nach unten zeigten und durcheinander brüllten. Sie verstand kein einziges Wort, kletterte jedoch mit weichen Knien wieder zurück über das Schanzkleid, rutschte aus und schlidderte direkt auf einen Poller zu. Geistesgegenwärtig schloss sie ihre Arme darum, als wäre es der Nacken eines geliebten Mannes, an den sie sich zu einem Kuss klammerte.
Irgendetwas musste am Rettungsfloß passiert sein.
Mit rasendem Herzschlag kam sie auf die Knie und hangelte sich weiter zum Geländer eines Niederganges, an dem sie sich festhalten konnte. Keuchend drehte sie sich um und ihr Herz setzte sekundenlang aus. Kreidebleich verfolgte sie das Drama, welches sich im tosenden Wasser zu ihren Füßen abspielte.
Das Floß war verschwunden! Eben noch hat te es an der Bordwand gehangen – sie selber hatte doch einsteigen wollen – und jetzt war es weg! Für einen langen Augenblick blieb es verschwunden, bis die nächste Welle es vor sich her schob und gegen den Schiffsrumpf drückte.
Und da begriff sie. Das Floß war gekentert! Offensichtlich waren die Besatzungsmitglieder dabei aus der Rettungsinsel gefallen, denn ganz deutlich konnte sie in diesem Moment die Leuchten an den Rettungskragen ausmachen, nachdem der Kontakt mit dem Seewasser die Batterien der Lichter aktiviert hatte. Wie Glühwürmchen markierten die Lampen die Position der im Wasser treibenden Menschen. Und einer davon war …
Simone!
Susanne schluckte heftig und schrie ihre Angst aus sich heraus, um nicht daran zu ersticken. Nach Luft schnappend brüllte sie wie irr und zitterte am ganzen Leib. Sie drehte sich zu Botho und den anderen um, aber die Männer verfolgten die Tragödie genauso hilflos aus der Ferne wie sie.
„ Ihr müsst sie da rausholen! Tut doch endlich irgendwas!“
M it weit aufgerissenen Augen starrte sie zu dem Floß und glaubte, den Bootsmann zu erkennen, der an den Leinen hing und sich mühte, das Floß wieder aufzurichten. Noch eine andere Person ruderte verzweifelt mit den Armen, um näher an die Rettungsinsel zu schwimmen. War das vielleicht …
Nein, angesichts der kurzen Haare vermutete sie, dass es sich um den Dritte n Nautischen Offizier handelte. Auf jeden Fall war es nicht Simone. Wo war sie?
In diesem Moment gelang es den Männern, das Floß wieder in eine aufrechte Lage zu bringen. Suse atmete durch, erinnerte sich allerdings gleichzeitig an die Seenotrettungsübungen, die sie selber während ihrer Ausbildung absolviert hatte. Damals mussten die Studenten in der Meeresschwimmhalle in ein Rettungsfloß einsteigen. Bei See und Windstärke Null! Und manchen von ihnen war dies bloß mit den größten Anstrengungen gelungen. Unter welch ungleich schwierigeren Verhältnissen mussten die Vier dort unten dieses Kunststück vollbringen.
Eiskalt erwischte sie die Erkenntnis, dass es hier um Leben und Tod ging. Und um ein Haar wäre sie jetzt eine der um ihr Leben kämpfenden Personen im Wasser. Nur eine Minute, die Hans Nienberg das Schott früher hätte öffnen müssen, lediglich ein paar Sekunden, die sie sich früher von Botho verabschiedet hätte – und sie wäre eine von ihnen. Und niemand kam ihnen zu Hilfe! Sie waren ganz auf sich allein gestellt. Was mochte Sissi denken? Wie musste sie sich fühlen, im Stich gelassen von denen, die sie noch vor wenigen Minuten ihre Freunde genannt hatte? Verdammt, sie konnten nichts anderes als zuschauen und Gott dafür danken, selber festen Boden unter den Füßen zu haben!
Mit einem Mal waren bloß noch zwei Erkennungsleuchten zu sehen. Aber sie waren zu viert! Suse wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, sie brannten höllisch von dem spritzenden Salzwasser und dem angestrengten Suchen. Sie hatte ganz deutlich vier Leuchten beobachtet. Und der Alte hatte ebenfalls von vier Besatzungsmitgliedern im Floß gesprochen. Das Blinken eines der Lichter verschwand immer wieder zwischen den Wellentälern und entfernte sich weiter von der Bordwand.
Sus e kämpfte sich zur Reling vor, ohne dem hektischen Schreien der Männer Beachtung zu schenken oder zu wissen, was sie dort überhaupt wollte. Sie wusste nur eines, wenige Meter von ihr entfernt kämpfte Simone Schill um ihr Leben und niemand war bei ihr. Ihre Hände und Beine zitterten vor Erschöpfung, als sie die nasse Bootsleiter fasste, keine Sekunde zu früh, denn eine heftige Windbö erfasste sie und schleuderte sie auf das Deck. Sie hörte ein hässliches Knirschen in ihren Gelenken und der Schmerz trieb ihr die Tränen in die
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