Frau an Bord (Das Kleeblatt)
durch die Schlagseite irgendwie verkantet haben.“
Ihre Stimme nahm einen immer schrilleren Ton an, je länger und schneller sie redete, bis sie fast hysterisch klan g. Auch das war ihr egal.
„ Stellen Sie sich vor, ich hatte schon Neptun persönlich in Verdacht, außen auf dem Schott zu sitzen, damit ich nicht hinaus kann. Er soll Frauen auf See nicht besonders mögen und wie ich Sie kenne, würden Sie ihm das vermutlich nicht mal übel nehmen, oder? Ich war drauf und dran, wieder ein Deck nach unten zu gehen, um von dort aus ins Freie zu gelangen. Aber, meine Güte, was hätte mich da erwartet? Ich hab mir vor Angst beinahe … nicht mehr gewusst, wohin. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Vielen, vielen Dank! Sie sind ein Schatz! Sie haben mir das Leben gerettet.“
Verlegen trat der alte Funkoffizier einen Schritt von der aufgeregt plappernden Frau zurück. In seiner gewohnt bärbeißigen Art murmelte er etwas Unverständliches, das er vermutlich zu niemand Bestimmten sagte, aber es klang wie: „Sie sind spät dran.“
U ngehalten zog er sie am Ärmel hinter sich her. „Wie immer reichlich spät“, wiederholte er – diesmal gut verständlich für alle Umstehenden. Dass ein solcher Vorwurf zu diesem Zeitpunkt geradezu lächerlich wirkte, schien ihm gar nicht in den Sinn zu kommen. Dann widmete er sich mit sehr viel größerer Aufmerksamkeit dem Verschließen des Schotts.
Aus diesem Mann werde ich wohl auf dieser Fahrt nicht mehr schlau werden, dachte Suse ernüchtert. Eigentlich schade, mitunter konnte er richtiggehend nett sein.
Mit angestrengt zusammengekniffenen Augen blickte sie sich auf dem Bootsdeck um und ihr stockte der Atem, weil ihr erst in diesem Moment das Ausmaß der Katastrophe bewusst wurde. Unzählige Male hatte sie hier gestanden und sehnsüchtig auf das Meer und die wenigen Hafenstädte geschaut, die die „Fritz Stoltz“ angelaufen war. Bislang hatte sie sich eingebildet, zumindest diesen Teil des Freidecks zu kennen, und sah sich jetzt arg getäuscht. Plötzlich kam ihr alles fremd vor. Die ungewohnte Lage des Schiffes, hervorgerufen durch die Schlagseite von etwa siebzig Grad, ließ das Bootsdeck völlig anders erscheinen. Manövrierunfähig taumelte der Frachter auf den Wellen und neigte sich dabei immer weiter der brüllenden See entgegen, die ihren gierigen Schlund aufriss.
W ie sollte sie von hier aus jemals in ein Rettungsboot umsteigen? Das war doch vollkommen unmöglich! Gischt spritzte hoch und verteilte sich in schaumigen Flocken auf dem Deck. Unter ihr wütete die See, die sich mit aller Kraft gegen den Eindringling warf, dann zurückwich, um erneut Anlauf zu nehmen und anzugreifen. Welle um Welle überflutete das Deck. Es war wie ein Versprechen, erst dann Ruhe zu geben, wenn sie den stählernen Koloss besiegt hatte.
Und jedem war klar, wer als Sieger den Schauplatz dieses Kampfes verlassen würde.
Im nächsten Augenblick wurde Susanne leichenblass. Die schmutzige Faust auf den Mund gepresst, verfolgte sie mit angehaltenem Atem, wie jemand über das Schanzkleid des Hauptdecks kletterte. Sie stolperte einen Schritt nach vorn, dann noch einen, aber sie hatte sie längst erkannt.
Die Stewardess hielt sich mit beiden Händen an der Bootsleiter fest und blickte dem Kapitän, der auf der anderen Seite de r Reling stand, konzentriert ins Gesicht. Wahrscheinlich gab er ihr noch irgendwelche Anweisungen. Auf diese Entfernung konnte Suse zwar kein Wort verstehen, doch sah sie Sissi eifrig nicken, bevor sie sich an der Außenhaut des sterbenden Schiffes in Richtung Wasser hangelte.
Das war der reinste Selbstmord! Wo wollte sie denn hin?
Suse konnte in der Finsternis nicht ausmachen, dass das Rettungs floß bloß wenige Meter über dem schäumenden Wasser an der Bordwand hing. Daneben klammerte sich der Dritte Nautische Offizier Lutz Möser mit einer Hand an der Leiter fest und streckte der Stewardess die andere Hand entgegen. Endlich entdeckte Suse in dem Gedränge auf dem Bootsdeck ihren Lieblingsmatrosen Botho. Mit den Ellbogen schob sie sich durch den Pulk der Menschen weiter nach vorne.
„Was hat Simone vor?“, rief sie ihm schon von weitem zu. „Was soll das werden, hä? Ist sie lebensmüde?“
„W ieso kommst du erst jetzt? Und wo hast du die ganze Zeit über gesteckt, verdammt noch mal?“ Ohne auf ihre bangen Fragen einzugehen, herrschte der Matrose sie an. Er sparte sich jede Mühe, die Besorgnis zu verbergen, die er um sie in der letzten Stunde ausgestanden
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