Frau an Bord (Das Kleeblatt)
dicht an ihrer Seite zu wissen. In einem der wenigen wachen Momente erinnerte sie sich an das Versprechen, ihn über das Ergebnis des Schwangerschaftstestes zu informieren.
Unter günstigeren Umständen hätte Jons Linke wohl einiges dafür gegeben, um neben der Funkerin zu liegen. So indes starrte er sie bloß reglos an, ohne dass er sie erkannte. Das Blut, das aus einer Wunde irgendwo zwischen seinen dichten Haaren ausgetreten sein musste, hatte seine sorgfältig gepflegten Locken verklebt. In einer breiten Spur war es von der Stirn zur Schläfe gelaufen, wo es als schwarze Kruste angetrocknet war. Die Wangen des Zweiten waren eingefallen, während die gesunde Bräune seiner Gesichtshaut einer fahlgrauen Farbe gewichen war. Immer häufiger verlor Jons Linke das Bewusstsein.
Später schlief Susanne vor Erschöpfung in Bothos Armen ein. Klein und hilflos kuschelte sie sich an ihn und der Matrose vergaß für ein paar Augenblicke die Kälte und Nässe und die Kräfte zehrenden Anstrengungen der vergangenen Stunden. Er träumte sich auf eine sonnige Insel unter Palmen, wo er mit Suse stranden würde, von lauen Nächten am weißen Strand, in denen sie sich leidenschaftlicher Liebe hingaben.
Ein schmaler roter Streifen wurde im Osten am Horizont sichtbar. Ein neuer Morgen brach an und schenkte den überlebenden Seeleuten der „Fritz Stoltz“ nicht allein Licht, sondern ebenfalls neue Hoffnung. War es erst einmal hell, so zumindest versuchten sie sich gegenseitig Mut zu machen, würden die Schiffe, die den Notruf des gesunkenen Bulkcarriers gehört hatten, nach den Schiffbrüchigen suchen.
Es war ein verführerischer Hoffnungsfunke – und so trügerisch. Keiner von ihnen hätte in diesem Augenblick für möglich gehalten, dass es noch mehr als vierundzwanzig Stunden dauern würde, bis ein spanischer Frachter das gekenterte Backbord-Rettungsboot ausmachen würde.
Und genauso wenig ahnten sie, dass das Sterben noch kein Ende genommen hatte.
19. Kapitel
Die Tür schwang quietschend auf und eine überdimensionale Reisetasche schob sich ins Freie. Mit einem theatralischen Schnaufer wuchtete ein zerbrechlich anmutendes Persönchen ihr Gepäck aus dem Eisenbahnwagen und atmete tief durch. Jede der elf Stunden Bahnfahrt konnte sie einzeln in ihren Knochen spüren, als sie die Tasche zu Boden fallen ließ, ungeniert die Arme über den Kopf hob und sich genüsslich streckte. Mit jedem zurückgelegten Kilometer, den der Zug sie ihrem Ziel näher brachte, hatte auch ihr Herz voller Erwartung schneller geklopft. Inzwischen wollte es vor Aufregung und Vorfreude schier zerspringen.
Sie legte ihren Unterarm an die Stirn, um ihre Augen vor der gleißenden Sonne zu schützen. Hatte sich wirklich nichts verändert? Immerhin war eine gefühlte Ewigkeit vergangen, seit sie hier, an der Endstation der Stadtbahn, das letzte Mal ausgestiegen war.
Damals, sie seufzte und lächelte zugleich, ja damals, an einem trüben Herbsttag hatte sie gespannt ihrer ersten Seereise entgegengefiebert. Zum Bersten angefüllt mit Illusionen und Träumen, naiv und unbekümmert hatte sie nichts gewusst vom Leben und noch weniger geahnt von den Gefahren, die in dieser Welt auf sie lauerten.
An der Bushaltestelle gegenüber stand ein neues Wartehäuschen, bemerkte sie und verzog geringschätzig den Mund. Na, das war wenigstens etwas. Und der Schlagbaum zur Einfahrt in den Seehafen sah frisch gestrichen aus. Doch es war noch immer dieselbe salzige Luft mit einem Hauch von Schmieröl und totem Fisch, die ihr um die Nase wehte und ein Gefühl von Vertrautheit vermittelte.
Sie war daheim!
Und trotzdem war alles anders. Während eine halbe Autostunde vor den Toren der Großstadt an der Ostseeküste scheinbar die Zeit stehengeblieben war, hatte sich für die vierunddreißig Besatzungsmitglieder des Motorschiffes „Fritz Stoltz“ und deren Familienangehörige alles geändert. Elf der Seeleute waren nach der endgültig letzten Fahrt des Massengutfrachters nicht mehr lebend nach Hause gekommen. Und selbst von den Toten konnten lediglich vier geborgen werden. Die Stewardess Simone Schill und der Decksmann Svend Berner waren ebenso wenig darunter gewesen wie Susannes Ausbilder, der alte Funkoffizier Hans Nienberg, oder der Second Mate Jons Linke. Zwar hatten sich die beiden Offiziere nach dem Untergang schwer verletzt auf eines der Rettungsboote der „Fritz Stoltz“ retten können, während der folgenden zwei Tage im stürmischen Atlantik waren sie
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