Frau an Bord (Das Kleeblatt)
jedoch irgendwann vom Bootsrumpf gespült worden und vermutlich ertrunken.
Zu diesem Zeitpunkt der Schiffskatastrophe hatte Susanne erkannt, dass Angst und Grauen nur bis zu einem gewissen Grad anwachsen konnten. Irgendwann hatte ihr Gehirn keine neuen Daten mehr verarbeitet, sodass es an dem einmal erreichten Punkt des Schreckens verharrte. Weitere Schocks wie das Abtreiben der beiden Offiziere vom Floß in den sicheren Tod hatten ihr Entsetzen nicht weiter steigern können. Reglos und innerlich völlig unbeteiligt hatte sie ihnen hinterher geblickt. Später vermochte sie sich höchstens bruchstückhaft an die letzten Minuten auf der „Fritz Stoltz“ und ihren verzweifelten Kampf gegen das Ertrinken erinnern, an ihre Rettung oder die Tage danach. Sie erklärte es sich damit, dass sich ihr Hirn wahllos irgendwelche Daten gegriffen und gelöscht hatte, um Speicherplatz für neue zu schaffen.
Das Erleben und Überleben dieser Tragödie hatte sie erwachsen werden lassen und die meisten ihrer verklärten Jungmädchenträume zum Platzen gebracht. Beinahe ein Jahr hatte sie seitdem auf den heutigen Tag gewartet. Sie hatte ihn herbeigesehnt und sich gleichzeitig davor gefürchtet.
Entschlossen schulterte sie ihre Tasche und folgte gemächlich den anderen Fahrgästen zum Ausgang. Die Hafenkräne wiesen mit ihren ausgestreckten Armen die Richtung und winkten ihr einladend zu. In einem plötzlichen Anflug von kindlicher Ausgelassenheit hätte sie den stählernen Riesen beinahe zugerufen: „Ich bin wieder hier!“, aber sie hatte während des vergangenen Jahres auch gelernt, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. Und so zügelte sie sich rechtzeitig und unterließ mit Rücksicht auf die an ihr vorüberhastenden Seeleute und Besucher, Hafenarbeiter und Angestellten der Reederei, die nach Schichtende mit der Stadtbahn nach Hause wollten, einen spontanen Freudenausbruch. Sie hatte es satt, Blicke voll von Mitleid, Bedauern oder Unverständnis zu ernten, wenn trotz allem einmal die Gefühle mit ihr durchgehen wollten.
Kurz darauf stand sie im Büro des Hafenmeisters, der ihr eröffnete, dass sie ihren Kahn um wenige Minuten verpasst hatte, weil der gerade zu einem anderen Liegeplatz verholt wurde. Gleichmütig zuckte sie mit den Schultern. Na ja, was soll’s? Als er weitersprach, wich ihr euphorisches Gefühl in Sekundenschnelle der Ernüchterung. An die Schweine-Pier.
I hr Schiff lag an der Schweine-Pier?!
Womit Mehli wieder einmal seine Theorie bestätigt sehen würde, dass das Leben auf dem Prinzip der maximalen Schweinerei beruht, schoss es ihr durch den Kopf. Missmutig schleuderte sie ihre Tasche von einer Hand in die andere. Wie kam sie ausgerechnet jetzt auf Mehli? Fast ein Jahr hatte sie von ihm weder etwas gesehen noch gehört. Sie hatte ihn nie vermisst. Nicht so wie …
Wie die anderen eben.
Den landläufig als Schweine-Pier bezeichneten Apatit-Kai kannte Susanne aus ihrer Studentenzeit, als sie sich im Hafen als Tallierer ein paar Mark an den Wochenenden verdient hatte: Bananenkisten aus Ecuador, Säcke mit brasilianischem Rohkaffee und Kakaobohnen aus Bolivien oder Kartons voller Spielwaren aus Taiwan zählen und auf endlosen Listen abhaken. Das Glück war ihr damals hold, sodass sie den Apatit-Kai lediglich aus der Ferne zu Gesicht bekommen hatte. Der befand sich aus gutem Grund weit abseits der anderen Kais in dem nicht sehr großen Ostseehafen. Die Straße dorthin war nicht zu verfehlen, hing doch beständig eine staubgraue Wolke darüber, die sich als verlässlicher Wegweiser erwies.
„Kommste zum Apatit, wirste zum Schwein“, hieß es damals und sie hatte herzhaft darüber lachen können.
„Elende Sauerei“, murmelte sie und hängte noch zwei Silben an, mit denen sie nicht nur ihrem Ärger Luft machte, sondern obendrein Harrys Herkunft in Zweifel zog.
Harry Pohl, der Leiter des Flottenbereiches, hätte sie ruhig vorwarnen können. Wenn er wenigstens andeutungsweise die Katze aus dem Sack gelassen hätte! Die Schwanzspitze hätte schon genügt, um Zwei und Zwei zusammenzuzählen. Eben erst war sie in seinem Heiligtum gewesen, um den Heuerschein abzuholen. Wenn sie es genau bedachte, hätten seine Grimassen, gemein, hinterhältig fast, sie bereits in jenem Moment stutzig machen müssen. Der kleine Glatzkopf mit den dicken Wurstfingern und den abgekauten Nägeln hatte sie von unten bis oben und wieder zurück in ihrem schicken, dunkelblauen Kostüm gemustert, wobei ihm seine wässrigen
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