Frau an Bord (Das Kleeblatt)
Glubschaugen aus dem Kopf gefallen waren. Nicht ein einziges Wort hatte er dagegen über den Liegeplatz ihres Schiffes verloren!
Nun wusste sie warum. Harry würde in seiner klimatisierten Baracke in der Faultierfarm sitzen und sich mit den anderen Männern – gestandenen, inzwischen ausgemusterten Seeleuten – ins Fäustchen lachen und das Maul über sie zerfetzen. Anfängerin, Landratte und, was noch weitaus schlimmer war, eine Frau!
Langsam zählte sie von zehn rückwärts und die Wogen der Entrüstung auf ihrem Gesicht glätteten sich. Und wenn schon, sie würde ihnen die Freude gönnen. Vielleicht hatten sie sonst nichts zu lachen, diese Neidhammel. Senile Hampelmänner, sollten sie doch grün und gelb werden vor Neid, weil sie, eine Frau, jung und ledig und gut aussehend – seetauglich! –, zur See fahren durfte, während ihnen selber lediglich der Anblick der aufreizend wackelnden Heckteile auslaufender Schiffe blieb – und wehmütige Erinnerungen an ein freies, ungebundenes Leben.
Ha! Und wenn schon, dann eben an den Apatit-Kai! Wer, wenn nicht Susanne Reichelt, wusste, wie viel Schlimmeres es auf dieser Welt gab, als den feinen Staub, der selbst durch die dichtesten Fasern der Kleidung drang und sich mit dem Schweiß am ganzen Körper zu einem widerlich klebrigen Film vermischte? Eine Waschmaschine voll verdreckter Klamotten und eine halbe Stunde unter der Dusche genügten, um wieder einen Menschen aus sich zu machen.
Jeder weitere Schritt, der sie näher zu Pier III brachte, beschleunigte ihren Puls. Je mehr sie sich zwang, nicht an das Gestern zu denken, desto deutlicher standen wieder die Bilder von damals vor ihr. Meterhohe Wellen in einer pechschwarzen Nacht, das ohrenbetäubende Heulen des Sturmes und das Licht von Simones Rettungskragen, das in einem Wellental verschwand und nie mehr auftauchte.
Es ist vorbei! rief sie sich zur Besinnung. So etwas passiert eben. Es passiert jeden Tag, das solltest du inzwischen wissen. Jeden Tag läutet die Schiffsglocke bei Lloyds in London als Zeichen für einen weiteren Totalverlust. Es ist Alltag. Und immerhin sterben weniger Menschen auf See als im Straßenverkehr. Oder in ihrem Bett.
Die Krux war, dass diese Rechnung so nicht aufging. Denn Susanne kannte die elf Toten der „Fritz Stoltz“. Sie kannte jeden einzelnen von Angesicht zu Angesicht, kannte ihre Namen, ihre Stärken und Schwächen. Und mit Jons Linke, dem Second Mate, verband sie über seinen Tod hinaus das Wissen um ihre Schwangerschaft.
Das Leben geht dort vorn weiter. Sie blinzelte angestrengt und starrte geradeaus. Ja, genau da! Sie sollte sich glücklich schätzen und dankbar sein, dass ihr das Leben ein zweites Mal geschenkt worden war, nämlich in dem Moment, als sie aus dem Atlantik gefischt wurde, ziemlich ramponiert zwar, aber immerhin in einem Stück und lebendig.
Allerdings empfand sie nicht nur Erleichterung darüber, das Inferno jener Nacht überlebt zu haben. An manchen Tagen qu älte sie der Gedanke, dass ihr – ausgerechnet ihr! – das Leben vergönnt war, nach dem die toten Seeleute in ihrem nassen Grab vergeblich riefen. Wieso hatte sie dieses Glück gehabt und nicht Simone, dieses lebenslustige Energiebündel? Oder Svend, der selbstlose Decksmann? Würde Simone noch leben, wenn Adrian bei ihr geblieben wäre und nicht unter Deck hätte gehen müssen, um sie, Susanne, zu holen? Hätte sich Svend retten können, wenn Adrian ihn nicht zu ihr geschickt hätte, sondern sich um seine eigene Sicherheit gekümmert und nicht alles daran gesetzt hätte, sie zu beschützen? Warum waren Funker und Second ertrunken, nachdem beide doch genau wie sie der sinkenden „Fritz Stoltz“ und der gefräßigen See entkommen waren? Sie wusste es nicht und diese Ungewissheit machte ihr nach wie vor zu schaffen.
Pier III, Apatit-Kai. War doch richtig! An ihrem Verstand zweifelnd schaute sich Susanne um. Hier lag kein Schiff. Was hatte ihr der Hafenmeister bloß erzählt? War ihr Schiff vielleicht gar nicht an den Apatit-Kai geschleppt worden? Oder sollte das Verholmanöver erst später stattfinden? Sollte das Ganze einer der typisch fiesen Scherze eines Mannes gewesen sein?
Genervt ließ sie ihre Tasche auf den mit einer dicken Staubschicht überzogenen Asphalt fallen. Weißes Pulver wirbelte durch die Luft und bedeckte Tasche und Schuhe. Ihr Blick schweifte erneut rundum, während sie langsam bis drei zählte. Nichts!
Endlich bei zehn angekommen, stöhnte sie plötzlich auf: „Oh
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