Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
Pot-au-feu, in dem schon alles gargekocht ist. Und in New York interessiert man sich jetzt für die Surrealisten, aber wer weiß, was morgen sein wird. Die Gringos wechseln ihre Moden wie ihre Wäsche. In Mexiko dagegen wirst du weder Snobismus noch Getue erleben, wir sind hungrig, in jeder Beziehung. In New York herrscht ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf, da musst du aus der Masse herausragen, ganz egal wie. In meinem Land dagegen beginnt dieser Kampf gerade erst, wir sind naiver und deshalb auch grausamer.«
    »Was soll ich mit Grausamkeit?«
    Die Anstalt hat Leonora das Gesicht in den Schmutz gedrückt und es mit Blut beschmiert. In Saint-Martin d’Ardèche hat sie wegen Max gelitten. Der Maler indessen hat keine Skrupel, Peggy zu benutzen; er nimmt sich, was er will. Plötzlich hört Leonora Marie Berthes Schreie in der Rue Jacob widerhallen, denkt an das Schicksal der von den Nazis verschleppten Luise Straus, an die Bestürzung in den Augen von Jimmy, und ihre Entscheidung steht fest. Wie aber wird es in Mexiko sein, und wie wird Renato in Mexiko sein? Stürzt sie sich in einen Abgrund? Die Surrealisten sind ihr natürliches Milieu, ihre Freunde, ihre Komplizen, ihre Bewunderer, aber Leonora ist jetzt eine andere. Santander hat sie verwandelt, begleitet sie überallhin und weckt sie jeden Morgen, Santander ist allgegenwärtig, liegt in Reichweite, auf dem Kopfkissen. Natürlich ist New York das Mekka der Kunst: die Galerien, das kulturelle Leben, das nach dem Krieg neu aufblühen wird, die vielen Möglichkeiten. Leonora indessen hat kein klares Bild von ihrer Zukunft, sie weiß nur eines: Sie muss Max verlassen. Er kann sie nicht zurückhalten; denn sie kennt jetzt den Wahnsinn, nicht das, was André Breton idealisiert, sondern sie spürt den tagtäglichen Wahnsinn. Er ist immer noch da und hallt in ihren fünf Sinnen wider.
    Leonora erinnert Max an eine Passage aus Carrolls Alice :
    »›Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?‹, fragte Alice.
    ›Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin du möchtest‹, sagte die Katze.
    ›Ach, wohin, ist mir eigentlich gleich.‹
    ›Dann ist es auch egal, wie du weitergehst.‹
    ›Solange ich nur irgendwohin komme‹, fügte Alice zur Erklärung hinzu.
    ›Das kommst du bestimmt‹, sagte die Katze, ›wenn du nur lange genug weiterläufst.‹«
    Max umarmt Leonora.
    »Nimm Leonora im Morgenlicht mit, sie gehört dir, ich schenke sie dir.«
    Max kehrt früh nach Hause zurück und sagt mit düsterer Stimme:
    »Leonora geht mit dem Mexikaner nach Mexiko.«
    Ihre Abreise ist Peggys Sieg, aber der Triumph währt nicht lange, denn zwei Monate später beginnt Max eine Affäre mit der jungen Dorothea Tanning.

Mexiko
    Auf der Bahnfahrt nach Mexiko-Stadt empfindet sie Renato wie einen frischen Lufthauch, wie den angenehmen Hauch, den sie spürt, wenn sie im Bahnhof das Fenster öffnet und draußen das Gewimmel hört, lauter Menschen mit der gleichen Hautfarbe wie ihr Mann. Renatos braunes Gesicht bereitet ihr den Weg zu unbekümmerter Leichtigkeit. Sie reden pausenlos, und bei Einbruch der Dunkelheit sagt er: »Die Nacht rollt dahin und der Zug durch die Nacht, / beide auf verschiedenen Wegen; / auf dem leeren Bahnsteig wird jemand eine Fracht / aus Melancholie aufgeben.« Er erzählt ihr, er sei Funker gewesen, und Leonora begreift, dass sich alles nur um sie gedreht hat und sie nichts über ihn weiß. Was für sie lebenswichtig ist, nimmt Renato nicht sonderlich ernst. Er ist mit der Truppe durch den Norden Mexikos gezogen und hat die Sprache der Kämpfer angenommen. Sein französischer Vater war in Mexiko geblieben und hatte aus seinem Sohn einen besessenen Leser gemacht. Renato sagt, was man nicht sagt, und tut, was man nicht tut, das reizt Leonora an ihm. Er hat der División del Norte angehört, ist Seite an Seite mit Pancho Villa und dem berühmten Journalisten John Reed galoppiert.
    »Und stell dir vor, da waren die Pferde mit im Waggon und haben Tee getrunken, und die Leute auf dem Dach mit ihren Siebensachen und ihren Gewehren sind nass geworden, haben geschlottert vor Kälte, haben sich geliebt, jeder Soldat hatte seine Soldadera dabei, und wer keine hatte, war ein armes Schwein.«
    »Das mit den Pferden ist herrlich, Renato!«
    »Du hättest wirklich bei den Houyhnhnms zur Welt kommen müssen.«
    »Es ist ja auch das Land, das mir in Gullivers Reisen am besten gefällt. Die ideale Welt: Die Pferde sind intelligent und lügen nie, die

Weitere Kostenlose Bücher