Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
nicht und mich selbst auch nicht, ich weiß nicht, was ich hier soll in Mexiko.«
    Leonora gefällt das neue Haus in der Calle Rosas Moreno, in der Nähe von San Cosme, weil es hoch und weitläufig ist und sehr europäisch aussieht, obwohl es reichlich baufällig wirkt.
    Ein Bauer treibt eine Schar Truthähne über den Bürgersteig.
    »Warum laufen in Mexiko ganze Puterherden durch die Straßen?«
    »Die Leute kaufen sie an der Haustür, um Mole daraus zu machen.«
    »Was ist Mole?«
    »Du poulet au chocolat« , erklärt Renato lächelnd.
    Am Tag darauf entdeckt Leonora an der Straßenecke die tanzenden Hündchen. Sie hüpfen auf ihren Hinterpfoten zu Trommel- und Flötenmusik, gespielt von einem Mann und einer Frau, den Hundehaltern. Die Passanten werfen ihnen ein paar Centavos hin, dann fallen die Hündchen wieder auf alle viere, und ihre Augen flehen nicht mehr.
    »Sie werden auf einer Kochplatte für Tortillas trainiert. Aus Angst, sich die Pfoten zu verbrennen, tanzen sie«, erklärt Renato.
    »Was für ein grausames Land! Erst die Truthähne, dann die Hündchen.«
    »Heute nehme ich dich mit zu Sanborn’s, einem dadaistischen Lokal par excellence, du wirst begeistert sein.«
    Leonora staunt, ein Freund nach dem anderen schaut am Tisch vorbei und umarmt Renato, der gar nicht zum Essen kommt. Die Freude ist sichtlich groß. Nach einer Weile isst Leonora allein, während in Renatos Suppe das Fett stockt.
    Tag für Tag zieht es Leduc stärker zu den Freunden. Leonora weiß sehr schnell, was ›cantina‹ heißt. Die Männer verabreden sich dort, und anders als in Europa dauert das Essen bis in die Abendstunden.
    »Woher hast du denn dieses Tier, Leonora?«
    »Habe ich auf der Straße gefunden.«
    Der Hund versteckt sich.
    »Er ist mir gefolgt, ich habe ihn Dicky getauft.«
    Am nächsten Abend wundert sich Renato: »Noch ein Hund?« »Ja, eine verletzte Hündin, sie heißt Daisy. Ich habe auch ein Kätzchen aufgegabelt: Kitty.«
    »Ach du Schande! Wo sollen wir die denn unterbringen? Seitdem mich mal ein Polizeihund gebissen hat, kann ich Hunde nicht ausstehen.«
    »Polizeihunde sind keine Tiere.«
    »Was denn sonst?«, fragt Renato spöttisch.
    »Verdorbene Wesen ohne tierischen Verstand. Sonst könnte ich mich ja mit ihnen unterhalten, ich kann nämlich mit allen Tieren reden, außer mit Polizeihunden.«
    Der braune Hund hebt den Kopf, und die Hündin Daisy schaut sie flehentlich an. Leonora muss sie schon oft gerufen haben, denn sie hören auf ihre Namen.
    »Ich habe sie gebadet, sie haben keine Flöhe. Dafür klettern hier die Wanzen an den Wänden hoch.«
    Renato ahnt, dass es nicht leicht sein wird, mit Leonora in Mexiko zu leben.
    »Wanzen vernichtet man mit Schwefel. Geh rüber in den Laden, kauf Schwefel und räucher sie aus. Nach einer Weile fallen sie tot zu Boden, vom Qualm erstickt.«
    »Ich will nichts töten.«
    »Na gut, dann mache ich es selbst, morgen Abend, wenn ich von der Arbeit komme.«
    »Welche Arbeit?«
    »Ich bin Journalist, Leonora. Bisher war ich Diplomat, jetzt arbeite ich bei einer Zeitung.«
    In den Straßen dieser feindseligen Stadt sieht Leonora Karawanen von Mauleseln und Ochsen, mit Holzbalken beladene Lasttiere, die noch trauriger dreinschauen als die tanzenden Hündchen.
    »Ich habe einen Mann gesehen, der trug einen Kleiderschrank mit zwei riesigen Spiegeln auf dem Rücken.«
    »Das war ein Lastenträger vom Markt La Merced.«
    »Wie grausam! Und warum laufen die Leute hier barfuß?«
    Gleichwohl genießt sie die Fahrt ins Stadtzentrum in einer offenen Straßenbahn, durch grüne, blühende Felder und ein Viertel mit lauter Flussnamen: Mississippi, Ganges, Seine, Duero, Guadalquivir.
    »Wie gut, dass es in Mexiko kaum Häuser und so wenig Menschen gibt und dass alle es eilig haben und immer schnell verschwinden wollen!«
    In ihrer Einsamkeit hört Leonora das Tröpfeln der Zeit. Ob Renato weiß, was Zeit ist? Sie raucht, wartet, schaut aus dem Fenster. Als sie wieder in die Küche blickt, sitzt auf einer Stuhllehne ein roter Vogel, rot wie ein Messdiener, wie ein Blutgerinnsel. Sie versteht nicht, wie er hereinfliegen konnte, wo doch Türen und Fenster geschlossen sind. Sie hält ihm ein Stückchen Banane hin, womit sonst soll sie ihn füttern? Der Vogel kreist durch den Raum und lässt sich abermals nieder, um irgendeine wundersame Winzigkeit aufzupicken. Dicky gibt keinen Mucks von sich, Kitty aber schaut hoch zu dem Vogel und leckt sich das Maul.
    »O ja, ein Happen rohes

Weitere Kostenlose Bücher