Frau des Windes - Roman
einräucherst? Wenn du es schaffst, mit der Zigarette in der Hand zu malen, schaffst du es sicher auch, noch einmal aufzuschreiben, was dir in Santander widerfahren ist.«
»Nein, Pierre, das schaffe ich nicht. Ich habe das alles schon einmal in New York aufgeschrieben, jetzt will ich nicht mehr darüber sprechen.«
»Wenn du es nicht in Worte fasst, wird dein Körper irgendwann explodieren. Überall in der Welt haust der Wahnsinn. In Haiti, wo ich herkomme, haben wir den Voodoo, der befreiend wirkt. Vermeintliche Verrücktheit ist dort etwas Normales. Oder nimm die Rarámuri in Nordmexiko, die feiern noch heute tausend Jahre alte Zeremonien mit Tänzen, die sie als Katharsis erleben. Fremden Zuschauern mögen ihre immer gleichen Schritte sinnlos erscheinen, ihnen jedoch dienen sie dazu, ihre Qualen loszuwerden.«
»Willst du vielleicht, dass ich tanze?«
»Ich will, dass du über deine Erfahrungen in Santander schreibst, ich helfe dir dabei. Was dir widerfahren ist, erleben auch andere. Du hast kein Monopol auf Wahnsinn.«
»Das alles liegt jetzt schon drei Jahre zurück, ich kann es unmöglich noch einmal durchleben.«
»Wenn man etwas vergessen will, muss man sich erst daran erinnern. Was du damals während deines Aufenthalts in New York in der Zeitschrift VVV veröffentlicht hast, war nicht mehr als ein Entwurf. Sei nicht so narzisstisch, sonst wird aus dir noch eine Theresia vom Kinde Jesu. Diese Jungfrau mit ihrem Rosenregen ist im Volksglauben genauso verbreitet wie die sich in Perlen verwandelnden Tränen und die Blutstropfen, die zu Rubinen werden. Aber der Bericht einer Frau, die aus der Hölle zurückgekommen ist und davon erzählen kann, ist ein Geschenk für die Psychoanalyse und die Philosophie.«
»Ich habe Angst.«
»Im Grunde ist es die Gesellschaft, vor der dir graut. Vergiss sie, sie hindert die Künstler nur an ihrer Entwicklung.«
Im August 1943 steigt Leonora abermals in die Hölle hinab und schreibt ohne eine Pause den hundertseitigen Bericht Unten . Pierres Frau Jeanne hilft ihr dabei.
»Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, das damalige Grauen wiederzugeben. Aber ich kann dir versichern, dass ich in einem Trancezustand geschrieben und wie ein Prometheus gelitten habe.«
Pierre Mabille bittet sie, ein paar Tage später wiederzukommen, und bei ihrer nächsten Begegnung schließt er sie gerührt in die Arme.
»Du bist eine Visionärin«, sagt er, »dein Text ist ein Traktat des Leidens.«
Leonora zeigt ihm die Zeichnung, die sie für ihren Arzt Luis Morales angefertigt hat, und die Skizze des Anstaltsanwesens mit seinen Gittern, dem Schloss, dem Obstgarten mit den Apfelbäumen, den angeketteten Hunden und einigen weiteren Details, die für sie symbolische Bedeutung haben, wie etwa einem am Boden liegenden Pferd – ›Ob ich das selbst bin?‹ – und einem Sarg mit einer zweiköpfigen Leiche.
»Man hätte dir niemals Cardiazol spritzen dürfen, Leonora«, lautet Mabilles abschließendes Urteil.
Der ungarische Fotograf
»Du verbringst den ganzen Tag in der Redaktion«, wirft Leonora Renato am Abend vor.
»Und du nimmst meine Ratschläge sehr ernst! Auf deiner Leinwand ist kein einziger neuer Pinselstrich zu sehen.«
»Ach so, pendejo , bist du jetzt Kunstkritiker geworden?«
»Wie gut du auf Spanisch fluchen kannst!«
»Weil ich spüre, dass ich dich hasse. Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich hasse, und das finde ich schrecklich. Ich verabscheue mich selbst zutiefst, mir graut vor dem Alleinsein, weil ich mich selbst nicht mag.«
»Du bist verrückt«, murmelt Renato, bevor er die Tür hinter sich zuschlägt.
Leonora packt die Wut. »Ich verschwinde!«, schreit sie ihm hinterher.
In der Calle Durango nimmt Elsie sie mit offenen Armen auf.
»Natürlich kannst du hier schlafen.«
Die Freunde in der Calle Gabino Barredo wollen von Streitereien, Waffen und Revolution nichts wissen, sie haben genug Grausamkeiten aller Art erlebt. Bei der besonnenen Elsie indessen schöpft Leonora Kraft. Der Garten ihres Hauses ist gemütlich und beruhigt sie.
»Komm, Leonora, lass uns in der Stadt Rührei essen«, schlägt Elsie vor. »Du wirst sehen, wie gut du heute Nacht schläfst.«
Am nächsten Morgen beim Frühstück sagt Leonora, sie werde zu Renato zurückkehren.
»Warum?«
»Ich kann einfach nicht allein schlafen.«
»Gestern wolltest du dich noch endgültig von ihm trennen.«
»Aber heute nicht mehr. Ich werde versuchen, ihn noch zu Hause zu erwischen, bevor er in die
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