Frau des Windes - Roman
morgens weckt.«
Remedios erklärt ihr Mexiko, bringt ihr bei, wie man Quetzalcóatl, Tecuahuatzin, Xicoténcatl ausspricht, und Leonora schreibt Geschichten, in denen Figuren aus den Markthallen der Stadt vorkommen. Der Mercado de Sonora ist ein teuflischer Ort, dort werden Kräuter zum Töten und Abtreiben feilgeboten, zaghaft nähern sich die Frauen und erkundigen sich flüsternd danach. An den Ständen baumeln Fledermäuse, Totenköpfe klappern aneinander. Neben den Flüchen, die Renato ihr beigebracht hat, kennt Leonora inzwischen auch einige auf der Straße aufgeschnappte Rätsel. Eines bleibt ihr besonders in Erinnerung: ›Ein langes, schwarzes Weib / isst nichts, aber fällt nicht um, / hat alles, nur Fleisch hat es keins / das Fleisch ist nämlich meins, / und ich bin des Weibes Leib. Was ist das?‹ Leonora und Remedios beschäftigen sich beide intensiv mit den Schatten ihrer Figuren.
»Jetzt musst du raten«, sagt Remedios. »›Ich bin ein armes schwarzes Ding, / hab Hände und Füße nicht, / ich ziehe durchs Land und übers Meer, / selbst Gott hielt nur durch mich.‹ Na, was ist das?«
»Der Nagel, der in mir sitzt und Max heißt.«
Remedios zeigt ihr die Insekten, die man essen kann: den Agavenwurm und die Larve der Kaktusmotte. Sie kennt sie gut, denn sie zeichnet sie detailliert, und Leonora lobt ihr Talent als Miniaturmalerin.
Beide glauben fest daran, dass die Natur heilt und Zauberei etwas bewirkt, der Seele guttut, sie aber auch in die Hölle stürzen kann. Deshalb suchen sie Kräuterfrauen und Heiler auf.
»Manchmal wünschte ich mir, man würde mir das Gehirn entfernen, um nicht mehr an Santander denken zu müssen«, sagt Leonora zu Remedios, und die brüht ihr einen Melissentee auf, der das Vergessen fördert.
Remedios ist gut im Feilschen.
»Wie viel?«
»Fünfzehn.«
»Zehn.«
Schließlich gibt die Verkäuferin ihr die Ware für den Preis, den sie geboten hat.
»Wollen Sie nicht diesen kleinen Esel kaufen, der ist zahm und brav.«
Leonora hätte zu gern einen Esel, doch schon antwortet Remedios:
»Nein, mein Mann genügt mir.«
Leonora lacht.
»Wenn du wüsstest! Benjamin ist ein echtes Arbeitstier und kann tausend Sachen machen. Deshalb wird er ja in Paris so vermisst.«
Beide finden es aufregend, zwischen den vielen Verkäufern, lauter warmherzigen und zugleich scheuen Menschen, umherzulaufen.
Remedios liest viel und spricht über Alexandre Dumas, Jules Verne, Poe, Huxley und Antoine de Saint-Exupéry.
»Weißt du, dass ich gerade einen Roman schreibe?«, erzählt sie. » Lady Milagra .«
Sie liest Leonora, die selbst schon zwei Bücher mit Erzählungen veröffentlicht hat, Teile daraus vor. Beide gehen zu der Heilerin Panchita, um sich spirituell reinigen zu lassen. Von oben bis unten werden sie mit Pirul-, Weinraute- und Zitronenblättern abgerieben. Remedios hat ein Ei mitgebracht, das die Schamanin an ihrem Körper entlanggleiten lässt, und Leonora, die sich der Vollkommenheit ihrer Freundin sicher ist, erschaudert, als der schwarze Wurm des Todes aus der Schale kriecht.
»Kati und du, Remedios, ihr habt mein Leben in Mexiko verändert. Die Beklemmungen sind verschwunden, ich denke fast nie mehr an all die schrecklichen Erlebnisse.«
In einem keltischen Kessel lassen sie ihre Freundschaft auf kleiner Flamme vor sich hin köcheln.
»Wir sind wie der Fuchs und der kleine Prinz«, sagt Remedios und zitiert aus dem Kleinen Prinzen : »Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig.«
»Was mir an dem Buch am besten gefällt«, sagt Leonora, »ist die Boa, die einen Elefanten verschlingt.«
»Angeblich ist Saint-Exupéry diese Idee im Flugzeug gekommen, beim Überfliegen einer patagonischen Insel.«
In der Küche der heruntergekommenen Wohnung in der Calle Gabino Barreda entwerfen sie eigene Gerichte. Wenn sie zusammen sind, brauchen sie niemanden sonst. Remedios schreibt Briefe an imaginäre Psychiater, und Leonora staunt und amüsiert sich über den Einfallsreichtum ihrer Freundin.
Leonora vertraut Kati an, wie sehr Renatos Welt sie abstößt – Politiker, Stierkämpfe, Journalisten, Trinkgelage, Schreie und Schüsse in den Cantinas …
»Aber Renato selbst ist doch nicht so abstoßend, oder?«, fragt Kati.
»Nein, er ist ein guter Kerl.«
In Remedios’ und Katis Wohnungen fühlt die Engländerin sich instinktiv zu Hause. Sie glaubt fest daran, dass ihre Seelenverwandte Remedios eine absolute Wahrheit besitzt, ein
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