Frau des Windes - Roman
Geheimnis, das ihrer beider Leben verändern wird. Wenn sie sich mit den Worten »Jetzt zieh ich mir meinen Fledermausmantel an« verabschiedet, reicht Remedios ihr das Kleidungsstück. Bisweilen erwähnt sie es auch selbst: »Vergiss deinen Fledermausmantel nicht!«
»Welche ist deine Zahl?«
»Die Sieben.«
»Meine Zahl ist die Acht«, erwidert Remedios lächelnd. »Kennst du das Gesetz der Oktave? Wir schwingen auf derselben Wellenlänge.«
Beide Malerinnen lesen Bücher über Alchemie, ein Thema, das Leonora von jeher fasziniert. Sie deuten auch Tarotkarten. Die Arkana verkörpern ihre Leidenschaften und Wünsche, die Geschichte, die sie beide verbindet.
Leonora malt für sich selbst, Remedios illustriert Kataloge für die Firma Bayer. Kommt es zwischen den Freundinnen mal zu Spannungen, versöhnt Kati sie wieder miteinander.
An der Straßenecke in der Nähe von Leonoras Haus lassen sich Verkäufer nieder, die Kräuter, Chamäleons, Muscheln und eine Vielzahl von Tütchen feilbieten, auf denen ›sexuelle Schwäche‹, ›Rheuma‹, ›Galle‹, ›Magenverstimmung‹, ›böser Blick‹ steht. Sie enthalten Substanzen, die von Schamaninnen, Geistheilerinnen und sogenannten Knochensetzern verwendet werden. Remedios trinkt auch lieber einen Fencheltee, als eine Tablette zu schlucken.
Wunder liegen in Mexiko genau wie Götterfiguren sogar unter der Erde.
»Was ist das denn?«, fragt Leonora überrascht.
»Eine Jademaske. Jade galt damals als etwas sehr Wertvolles, es war der heilige Stein par excellence«, antwortet Péret.
»Jade ist nicht der einzige besondere Stein«, schaltet sich Wolfgang Paalen ein, »es gibt auch den Chalchiuitl oder Jadeit – was so viel bedeutet wie ›leuchtender Edelstein‹ –, das ist ein runder, glänzender Stein, den die Olmeken ihren Toten in den Mund gelegt haben, damit er ihnen den Weg in die Unterwelt leuchtete. Und die Chinesen haben Jadezigaretten geschnitzt und sie ebenfalls den Toten in den Mund gesteckt.«
Leonora ist fasziniert von diesem Land, das pausenlos Reste einer außergewöhnlichen Kultur zu Tage fördert. Die Religiosität der Mexikaner indessen verwirrt sie. Mit der ersten Münze des Tages bekreuzigen sie sich, trinken Schnaps vor dem Altar, und am Karfreitag verletzen sie sich bis aufs Blut. An jedem noch so kleinen Platz steht eine Kirche und verschlingt die Passanten. Am ersten November kauft Remedios Leonora einen Totenschädel aus Zucker mit ihrem Namen darauf. Da es nur Zuckerschädel mit ›Leonor‹ gibt, fügt sie dem Namen mit dem Pinsel ein ›a‹ hinzu.
»So hat Doktor Morales in Santander mich immer genannt.«
Wenn Renato morgens zur Redaktion aufbricht, verlässt auch Leonora das Haus und geht zur Calle Gabino Barreda. Zuweilen unterhalten die Freundinnen sich über die Zeiten ihrer ersten Begegnung in Paris, als die Spanierin noch mit ihrem damaligen Mann Esteban Francés zusammen war.
Nach ihrer Entlassung aus der Klinik in Santander hat Leonora gelernt, Abstand zu wahren, Remedios indessen bringt ihren Panzer zum Schmelzen. Sie behütet, beschützt und versteht sie. Noch nie war Leonora so eng mit einer Frau befreundet.
»Gut geht es mir nur, wenn ich mit dir zusammen bin. Dann fühle ich mich leicht.«
»Weißt du, dass auch Pierre Mabille in Mexiko ist? Er hat nach dir gefragt, er würde dich gerne sehen«, sagt Alice Rahon zu Leonora.
Breton, ein enger Freund von Mabille, hält den französischen Arzt für einen außergewöhnlichen Surrealisten. Sein in der Kunstzeitschrift Minotaure erschienener Essay über die Bedeutung des Spiegels in der Psychologie hat bei den Pariser Surrealisten für viel Wirbel gesorgt. Nachdem er in Paris Die ovale Dame gelesen hatte, schrieb er, Leonora sei ein wunderbarer Mensch und haben ihn sogleich fasziniert, als er sie in der Rue Fontaine zum ersten Mal gesehen habe. ›Sie erinnerte mich an die Prinzessinnen aus den schottischen Sagen, jene federleichten Wesen, die über die Dächer mittelalterlicher Schlösser huschen, um auf weißen Wildpferden davonzugaloppieren und sich an der nächsten Wegbiegung in der Heide zu verflüchtigen …‹
Leonora hat es damals nicht sonderlich gefallen, dass Mabille die Iren mit den Schotten und Engländern verwechselt hat, gleichwohl flößte der surrealistische Arzt, ein gutaussehender Mann von poetischer Kraft, ihr Vertrauen ein.
»Pierre, ich bin süchtig«, vertraut Leonora ihm an.
»Glaubst du nicht, dass du eigentlich nur deine Gefühle
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