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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Zeit für uns, ihr Leben ist im Nähmaschinengeratter dahingegangen.«
    »Und dein Vater, Chiki?«
    »Der ist im polnischen Schnee gestorben. Und deiner?«
    »Meiner ist ein menschenfressender Riese. Noch heute träume ich davon, dass er mich verfolgt.«
    »Weißt du was, Leonora? Tief in meinen Albträumen höre ich immerzu eine ratternde Nähmaschine, und manchmal träume ich, acht Priester mit weißen Gesichtern würden irgendwelche Hebel verstellen und auf irgendwelche Knöpfe drücken, um mich selbst zu nähen. Dann versuche ich, mich zu wehren, und rufe ›Ich bin die 105!‹, und wache jedes Mal schweißgebadet auf.«
    »Auch ich träume von Nonnen und Priestern, die gemeinsam mit Wildschweinen, Hasen und Enten am großen Esszimmertisch sitzen, und am Kopfende thront Carrington.«
    Sie reicht Chiki einen Stein und sagt:
    »Unser Vater ist das Wasser, unsere Mutter die Erde, wir werden im selben Haus wohnen, denn mir gehört das Feuer und dir die Luft. Mit diesem geschliffenen Stein kannst du die Tür öffnen. Von nun an bist du ich, und ich bin du.«
    Chiki sieht den Respekt in Leonoras Blick.
    »Bis heute lebe ich mit anderen hungrigen Kindern im Waisenhaus. Das ist die Tür, die ich öffnen will. Ich bin Jude, Leonora, und Jude zu sein ist ein langer Schrei, der die Nacht durchdringt.«
    ›Er weiß viel mehr als ich, er ist ein höherer Mensch‹, denkt Leonora ergriffen. Chiki kommt aus einem hochentwickelten Land und hat in Budapest in intellektuellen Kreisen verkehrt. Seine Schwester hat den Rektor der Universität geheiratet, mit dessen Hilfe sie dem KZ entkam. Hier in Mexiko verbringt Chiki seine Zeit in der Bibliothek wie ein Gelehrter.
    Auch Leonora gefällt dem Fotografen.
    »Weißt du, wer Robert Capa ist?«, fragt er sie.
    »Ja, ein bekannter Kriegsberichterstatter. Ich habe in mehreren Zeitschriften Fotos von ihm gesehen.«
    »Capa ist mein Freund, als Jugendliche haben wir zusammengearbeitet. In Budapest wurde er von allen Bandi genannt. Wir waren beide Juden und Antifaschisten – Csiki und Bandi – und sind mit umgehängter Kamera nach Paris geflohen; denn in Ungarn hätten uns Gefängnis oder Tod erwartet. ›Jemand hat mir geraten, eine Unterkunft in der Nähe des Quartier Latin zu suchen‹, sagte Bandi. Kennst du zufällig das Hôtel Lhomond zwischen dem Pantheon und der Rue Mouffetard? Ich hatte nicht einen Centime in der Tasche. Also hat Bandi die beiden ersten Nächte bezahlt.
    ›Wenn wir Hunger haben, klauen wir uns einfach ein Baguette‹, meinte er.
    ›Ich schlage vor, wir angeln in der Seine.‹
    ›Nein, Csiki, in der Seine gibt es nichts zu angeln. Außerdem können wir doch gar nicht angeln.‹
    ›Alles nur eine Frage der Geduld.‹
    Wir fingen zwei kleine Fischchen, die nach Schlamm schmeckten. Am dritten Abend zogen wir dann in eines der Ateliers in der Rue Froidevaux um, in denen mehrere Ungarn auf engstem Raum zusammenhausten. Mit einem Baguette und mehreren Schachteln Zigaretten ertrugen wir den Hunger. Während Bandi davon überzeugt war, dass Brot am besten sättigt, bin ich irgendwann auf Pommes frites umgestiegen.«
    Fasziniert saugt Leonora jedes von Chikis Worten auf, er versetzt sie zurück nach Paris und verrät ihr Überlebenstricks.
    »Esdras Biro, der ebenfalls Ungar war, empfahl uns Kartoffelschalen, er meinte, die würden besser schmecken als Tabak und die Nerven beruhigen.«
    »Kartoffelschalen würde ich auch gerne essen«, sagt Leonora lächelnd.
    »Wir waren jung und voller Idealismus. Bandi träumte davon, sich eine Leica-Kleinbildkamera zu kaufen. In Ungarn hatten wir bei Lajos Kassák Fotografieren gelernt. Der hat zu uns gesagt: ›Vor eurer Linse liegen die großen sozialen Ungerechtigkeiten.‹ Ständig hat er uns von Jacob Riis und Lewis Hine erzählt, die den Schmerz der Welt mit ihrer Kamera eingefangen haben.
    Bandi war sehr selbstbewusst, ich dagegen unsicher und introvertiert. Ihn umschwärmten die Frauen, mich lähmte die Schüchternheit. Nachts schnarchte Bandi wie ein Sägewerk, so dass ich stundenlang wach lag. ›Csiki, lauf nicht hinter mir her wie ein Hündchen‹, hat er oft vorwurfsvoll zu mir gesagt. Ich glaube, in seinen Augen war ich ein charakterschwacher Mensch, dabei hat mir im Grunde nur die Sicherheit gefehlt, die er im Überfluss besaß. Oft zog er allein los, und eines Tages kam er begeistert von einer Begegnung mit einem polnischen Fotografen zurück.
    ›Ich habe mich mit einem sehr intelligenten und leutseligen Mann

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