Frau des Windes - Roman
Redaktion geht.«
Als sie in ihrer Wohnung in der Calle Artes ankommt, steht Renato unter der Dusche.
»Renato, Remedios und Benjamin haben uns zum Essen eingeladen«, ruft Leonora, als sei nichts gewesen.
»Okay, ich hole dich um acht Uhr ab.«
»Du bist immer so unpünktlich, das macht mich fertig.«
Um neun ist Renato immer noch nicht zu Hause. Da beschließt Leonora, mit Pete, Dicky und Daisy zu ihren Freunden zu gehen. Kitty macht es nichts aus, allein zu bleiben, sie schläft viel. Renato taucht erst drei Stunden später auf, als Leonora sich gerade mit dem ungarischen Fotografen Imre Emerico Weisz unterhält, der kürzlich aus seiner Heimat eingetroffen ist.
»Er wäre beinahe im KZ gestorben, seinen Bruder haben sie umgebracht. Ich habe ihn durch Robert Capa in Madrid kennengelernt«, erzählt Kati.
Renato und Benjamin Péret wärmen gemeinsame Erinnerungen an das Nachtlokal La Cabaña Cubana mit seinen tollen schwarzen Tänzerinnen auf. »Ich war mit Picasso da, er hat sich prächtig amüsiert.«
Der Ungar, den hier alle nur Chiki nennen, ist ein gutaussehender Mann, hat gerötete Augen und erzählt mit mathematischer Präzision von seiner Flucht aus Europa. Leonora ist ergriffen.
Plötzlich hüllen die Kriegserlebnisse sie in eine Blase, in der nur sie beide sich befinden, getrennt von allen anderen. Chiki erzählt, und Leonora hält immer öfter den Atem an.
»Weißt du, welcher Tag das Leben von Imre Emerico Weisz bestimmen sollte?«, fragt Chiki.
»Nein, welcher?«, antwortet Leonora kokett, da sie annimmt, er werde jetzt sagen: ›Der Tag, an dem ich dich kennengelernt habe‹. Er aber fährt mit düsterer Stimme fort: »Der Tag, an dem meine Mutter mich ins Waisenhaus gebracht hat.«
»Wann war das?«
»Als ich vier Jahre alt war. Wir waren drei Geschwister, und meine Mutter musste einen von uns auswählen. Sie hat sich für mich entschieden.«
Leonora malt sich aus, wie die Mutter das schlafende Kind aus dem Bett holt, es anzieht und mit ihm zu einem Haus geht, vor dem schon andere Mütter mit ihren Kindern Schlange stehen. Dann verschwindet der kleine Chiki hinter dem Gittertor, man rasiert ihm den Schädel, und weil er der Kleinste ist, zieht einer der Aufpasser ihm die gestreifte Hose an und knöpft ihm die Jacke zu, auf deren Vorderseite die Nummer 105 aufgenäht ist.
»Jetzt lauf zu deiner Mutter und gib ihr die Kleider zurück, die du anhattest.«
Die Mutter hockt sich vor ihn hin und sagt, er werde nun viele nützliche Dinge lernen. Chiki weint. Seine Mutter putzt ihm mit ihrem Taschentuch die Nase.
»In Zukunft musst du dir selbst die Nase putzen.«
»Warum hast du mich hergebracht?«
»Du bist der Auserwählte, so wie bei Abraham und Isaak, darauf solltest du stolz sein. Du bist Jude, vergiss das nie.«
Als sie sich umdreht und geht, läuft Chiki hinter ihr her, stolpert in seinen neuen Stiefeln und fällt hin. Es ist ihm egal, ob hundertfünfzig Kinder ihn weinen sehen.
Chiki schreit jede Nacht und weckt die anderen Kinder auf.
»Schon wieder die 105!«
Die anderen schlafen wieder ein, Chiki nicht.
Leonora begreift einfach nicht, wie man einen Menschen zu einer Nummer degradieren kann.
Auch sie kennt Schlaflosigkeit und kann sich gut in Chiki hineinversetzen, als er ihr erzählt, wie der Mond auf dem Linoleumboden des Schlafsaals glänzte und dass dieser Glanz für ihn das Wasser der Donau war und sein Bett ein Schiff auf der Fahrt nach Budapest.
»Als ich zum ersten Mal versucht habe, mein Laken zu trocknen, hat der Aufpasser den Fleck bemerkt, und alle haben es mitbekommen. ›Na prima, 105!‹, hat er gerufen und vor allen Kindern das Bett aufgeschlagen.«
»Wie grausam! Wie hast du diese Erniedrigung nur ertragen?« Leonora fragt nicht Chiki, sondern sich selbst und sieht sich wieder in ihren Exkrementen liegen.
»Wenigstens gab es die Mathematik, die hat mich getröstet, und die Lehrer waren jedes Mal überrascht, wenn sie mich an die Tafel riefen. Eines Tages habe ich sogar die Geschichte meines Landes in eine Gleichung gefasst.«
»Wie denn das?«
»Der Lehrer bat mich, die Krönung von Szent István von Ungarn zu schildern, und da habe ich ein Diagramm gezeichnet. Zufällig kam der Direktor in die Klasse, sah meine Zeichnung und verkündete mit strenger Stimme: ›Imre Emerico Weisz scheint die Krönung von Szent István mit höherer Mathematik zu verwechseln.‹ Dann befahl er mir, ihm ins Direktorat zu folgen.«
»Und hat dir die Strafpredigt deines
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