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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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denen von Tanguy, jetzt sehen sie eher wie deine eigenen aus«, meint Leonora.
    Mit seinem Skizzenblock in der Hand wandert Gerszo weiter.
    »Deine Figur ist im Grunde die Landschaft«, fährt Leonora fort.
    »Und welche ist deine?«
    »Meine Kindheit, die Sidhe, die Pferde, die Kelten.«
    Benjamin Péret erzählt ihr, die erste Sonne sei ein Jaguar gewesen, der alles verschlang, die zweite ein heftiger Wind, der den Planeten verwüstet habe; die dritte Sonne habe alle Tiere erstickt, so dass nicht einmal die Echsen übrig geblieben seien, und so weiter, bis die fünfte Sonne gekommen sei und die Mexikaner zum auserwählten Sonnenvolk gemacht habe. Der alte Kontinent, sagt er, habe noch nicht begriffen, was es bedeute, das Sonnenvolk zu sein.
     
    »Ich habe einen Huitzilopochtli übrig, Leonora, willst du ihn mit nach Hause nehmen?«, fragt Paalen.
    »Er macht mir Angst. All diese Figuren, die dich so begeistern, kommen mir vor wie bösartige Wesen. Ein einziger von diesen Teufeln könnte mich zerstören.«
    »Ich habe nie etwas Schöneres gesehen als die aztekische Erdgöttin«, erwidert Paalen verzückt. »Sie birgt das ganze künstlerische Genie des Primitiven in sich.«
    Leonora schlägt die Hände vor die Augen. Vor ihr erhebt sich die aztekische Göttin mit ihren Adlerkrallen, ihrem Totenschädel anstelle eines Kopfes und ihrem Schlangenrock.
    »Ein Albtraum!«
    Péret ist der Ansicht, Mexiko hätte nie erobert werden dürfen, da seine Vergangenheit alles überrage, was die Schweinehirten, die es unterworfen hätten, je zu erfinden imstande gewesen seien.
    In der Calle Gabino Barreda sind die Freunde unter sich und spielen ›Cadavre exquis‹. Jeder schreibt ein Wort oder zeichnet eine Figur auf ein Blatt Papier, faltet es und reicht es weiter, bis am Ende das Gemeinschaftswerk präsentiert wird. Remedios und Leonora praktizieren das automatische Schreiben.
    »Erst musst du in dir eine Leere erzeugen und abwarten. Im Unterbewusstsein entsteht ein Bild, das nur als Gebärde, Rhythmus oder magische Formel auf dem Papier erscheint, als Gekritzel. Das ist der Einstieg. Dann musst du dich nur noch gehenlassen und alles Verdrängte aufs Papier bringen.«
    Aufgeregt kehrt Leonora nach Hause zurück. Sie hat ihre spirituelle Umgebung gefunden, ihre wahre Familie. Diese Heimat, die ihr in den Schoß gefallen ist, verdankt sie Remedios.
    Zwangsläufig bringt die Gruppe sie wieder Max näher. Péret erinnert sich an Max als einen unsicheren Menschen, der sich von Personen angezogen fühlte, die an der Grenze des sogenannten Wahnsinns lebten.
    Mexiko ist das Land der Zukunft. Vor zwei Jahren hat André Breton geschrieben, dass ›dort alle Hoffnungen lodern …‹.
    Immer wieder zitieren die Freunde Max, und Leonora denkt an das, was sie verloren hat.

Erinnerungen an die Hölle
    In der Calle Gabino Barreda ist Frankreich das Thema Nummer eins, vor allem weil Péret innerlich immer noch in Paris lebt.
    »Interessierst du dich denn für nichts, was hier passiert?«, fragt ihn Leonora.
    »Für mich ist Mexiko Pompeji, und ich bin einer der Toten.«
    »Warum Pompeji?«
    »Pompeji wurde vom Vesuv zerstört, auch Mexiko liegt unter Lava begraben und …«
    Péret spricht seinen Satz nicht zu Ende, greift stattdessen wieder sein zweites Dauerthema auf, die Nazis.
    »Wäre es nicht einfach gewesen, Hitler noch vor der Ausbreitung des Nationalsozialismus zu ermorden? Ich frage mich, ob die Mexikaner, die die Nazis nur aus den Radionachrichten kennen und immer so von deren Disziplin schwärmen, eigentlich wissen, was da vor sich geht.«
    Zu den seiner Meinung nach gewaltverherrlichenden Muralisten bleibt er auf Distanz. Péret kennt den Tod und weiß, dass Sterben nichts ändert.
    »Revolution? Revolutionen hinterlassen nur Leichen, Witwen und Waisen. In der Malerei vernichten die drei Großen doch alle anderen. Neben ihnen existiert nichts und niemand«, klagt Péret. »Ihre Devise lautet: Einen anderen Weg als den unseren gibt es nicht.«
    »Herbert Read behauptet zu Recht, Diego Rivera sei nur ein zweitklassiger Maler«, lautet Esteban Francés’ Urteil.
    Freilich ist das Land gastfreundlich, öffnet den Flüchtlingen seine Tore.
    José Horna verbreitet gute Laune. Aus seiner Feder stammen viele Landkarten, die er für die Republikaner angefertigt hat, einige davon hängen bei ihm an der Wand. Leonora findet ihn attraktiv und muss immer lachen, wenn er sagt:
    »Ich helfe bei allem mit, solange man mich nicht vor elf Uhr

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