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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Lebens gehalten.«
    »Nein. Er hat ein zweites Diagramm an die Tafel gezeichnet und mich gefragt, ob ich wisse, was das sei. ›Eine ähnliche Zeichnung wie die, die ich im Geschichtsunterricht gemacht habe‹, gab ich ihm zur Antwort. Er fragte mich, wo ich denn diese Dinge gelernt hätte, und ich sagte ihm, dass ich es nicht wüsste. Von dem Tag an haben die Lehrer mich besser behandelt.«
    Chikis Erzählungen ergreifen Leonora zutiefst, bisher hat sie nicht geahnt, wie sehr manche Kinder leiden. Verglichen mit Chiki war sie Alice im Wunderland, sie hat sich mit Pferden unterhalten, die Sidhe haben sie behütet und die Rote Königin hat sie in Schutz genommen. Mit den mathematischen Gleichungen eines hochbegabten Kindes hatte das alles nichts zu tun.
    Chiki erzählt ihr von einem Mädchen, in das er damals verliebt war und das »so rosarot war wie der Krumplicukor, den man bei uns zu besonderen Anlässen isst«. Sein Körper habe gebebt, eine merkwürdige Hitze sei ihm in die Wangen gestiegen, und als er entdeckt habe, dass das Mädchen Macht über Tiere hatte, seien all seine Albträume verschwunden.
    Als Dank für sein Vertrauen erzählt Leonora ihm vom Tag ihrer Erstkommunion. Ihre Mutter hat ihr damals einen Besuch im Zoo von Blackpool geschenkt. Nur sie beide sind hingegangen, sie selbst trug noch immer ihr weißes Kommunionkleid, und die Affen kamen ans Käfiggitter, um sie zu begrüßen. Ach, war das schön! Noch dazu war sie allein mit der Mutter, ohne ihren Vater, ohne ihre Brüder, ohne Nanny! »Herr Löwe«, hat sie gesagt, »ich möchte mich vorstellen, ich bin Leonora Carrington und bewundere Sie«, »Fräulein Hyäne, obwohl Sie stinken, möchte ich, dass Sie mir anstelle von Mademoiselle Varenne Französisch beibringen«, »Herr Luchs, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, fordern Sie mich doch zu einem Wettrennen heraus«, »Wie gut Sie sich mit Ihrem Rüssel die Ohren abduschen können, Herr Elefant«. »Ein Elefant vergisst nie«, hat ihre Mutter ihr erklärt und dann staunend festgestellt:
    »Die Tiere kommen ja zu dir, Prim, sieh nur, wie sie sich ans Gitter drängen.«
    »Das ist normal, sie wissen, dass ich ihre Sprache spreche.«
    Ihre Schulhefte waren das reinste Bestiarium: Pferde, Kaninchen, Schildkröten, Hyänen, Füchse, Schafe. Und wenn sie eine Seite umblätterte, streiften Zebras ihre Gedanken. Das einzige Tier, das sie nicht mochte, war das Krokodil, dieses kriechende Geschöpf mit den vielen Zähnen.
    Früher, im Wintergarten von Crookhey Hall, hat sie sich mit den Pflanzen unterhalten: »Guten Morgen, Rosenstrauch, was ist denn heute mit dir los? Öffne mal deine Knospen, reck und streck dich.« Sie hat sich vorgestellt, wie der Strauch wohl aussehen würde, wenn sie am nächsten Tag nach ihm schauen würde. ›Nichts ist so, wie man es sich ausmalt.‹
    Chikis Kindheit tut Leonora in der Seele weh. Sie könnte sie malen und die Geschichte von den am Donau-Ufer geklauten Äpfeln sichtbar machen.
    »Der Besitzer dieses Obstgartens muss ein reicher Mann sein und hat bestimmt eine große Familie, die viel Obst isst«, sagt die 99 zur 105.
    »Vielleicht hat er ja sechs Frauen und mit jeder Frau zehn Kinder.«
    »Nein, diese Äpfel sind für die Schweine bestimmt«, behauptet ein anderer Junge.
    Nachts klettern die 19, 60, 38, 105, 68, 85, 27, 99 und 55 alias András, Szabo, Mirko, Imre, Antal, Nikola, Sándor, Ferenc und Janós heimlich durch ein offenes Fenster aus dem Schlafsaal. Der Mond leuchtet ihnen den Weg. Im Obstgarten trennen sie sich, jeder pflückt Äpfel, und anschließend treffen sie sich in der Latrine und teilen die Beute untereinander auf.
    »Eigentlich habe ich mir gar nichts aus Obst gemacht«, sagt Chiki zu Leonora. »Aber ich erinnere mich noch heute an den Geschmack von Freiheit mitten in der Nacht. Einmal hörte ich plötzlich ein Geräusch, da kam ein kleines, weißes Pferd angaloppiert und machte Bocksprünge.«
    »Ein Pferd?«
    Kein Zweifel, Chiki ist ihr Seelenverwandter, der zwischen den Zweigen des Apfelbaumes auf sie zukommt.
    Leonora musste nie ungesäuertes Brot essen wie der kleine Chiki, ihr Kloster war eine Anstalt für reiche Mädchen.
    »Was hat deine Mutter gemacht, Leonora?«
    »Nichts außer Befehle erteilen, reiten, Tee servieren, verreisen, Wohltätigkeitsbasare veranstalten, Leute besuchen. Und deine?«
    »Meine hat von früh bis spät genäht. Oft war ich hochrot vor Wut, weil ich sie nie dabei unterbrechen durfte. Sie hatte keine

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