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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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schlank, hat eine kräftige Nase und ein Lächeln, das sie stärkt. Und er ist der aufmerksamste Mann der Welt.
    Seine gesamte Gestalt strahlt etwas Schutzloses und Bescheidenes aus. Wie die Mexikaner, denen sie in den Straßen begegnen, scheint er stets um Verzeihung dafür zu bitten, dass er lebt. Leonora vergisst ihren Strohhut, den sie auf dem Markt gekauft hat, stellt sich in die Sonne und breitet die Arme aus. »Macht nichts«, sagt sie. »Als Kind, im Kloster, habe ich die Sonne angehalten, heute werde ich das Gleiche tun.« Sie unterhalten sich auf Französisch oder laufen schweigend die Avenida Álvaro Obregón entlang, jene Avenida, die am stärksten den Pariser Alleen gleicht. An Chikis Brust hängt ein Fotoapparat, den der Fotograf Semo ihm geschenkt hat.
    Er lernt schneller Spanisch als Leonora, denn bisweilen fragen ihn auf der Straße Liebespärchen oder Schüler: »Machen Sie ein Foto von uns?« und unterhalten sich mit ihm. »Wann kriege ich mein Foto? Woher kommen Sie?«
    Da kaum jemand Tschechisch, Polnisch, Ungarisch oder Russisch spricht, müssen die Slaven Fremdsprachen lernen, so kann Chiki sich nach drei Monaten leichter verständigen als Leonora.
    Die Nachmittage mit Chiki, der sie verliebt anschaut, verschönern Leonoras Leben.
    Renatos turbulenter Alltag, seine vielen Verabredungen und Zechtouren regen sie mittlerweile nicht mehr auf. Je seltener sie ihn sieht, umso besser.
    »Am liebsten würde ich auf einem weißen Pferd aus dem Fenster springen und davonreiten.«
    »Und einen ungarischen Hengst hast du ja schon, oder?«
    »Ja. Mit ihm habe ich mehr gemeinsam als mit dir.«
    »Wird dieser Kerl dir auch malen helfen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Das Einzige an ihm, woran ich mich erinnern kann, sind seine roten Augen und seine genauso rote Nase.«
    »Er kennt André Breton.«
    »Sieh an, welch großartige Referenz!«
    »Er hat viel gelitten.«
    »Das ist kein Grund zum Heiraten.«
    »Auch ich habe viel gelitten.«
    »Ach komm, stell dich nicht dumm und hör auf mit dieser Leier!«
    »Ich will nicht mehr mit dir zusammenleben.«
    »Soweit ich weiß, hast du nur diese Wohnung.«
    »Ich habe schon mit Elsie Escobedo gesprochen. Ich kann zu ihr ziehen.«
    »Du bist ja verrückt! Wo willst du denn mit deinen Tieren hin?«
    »Die nehme ich mit.«
    »Ich kann meine Arbeit nicht aufgeben, Leonora, sonst verhungern wir. Du musst auch einen Beitrag leisten.«
    »Ja, und mein Beitrag sieht so aus: Ich verschwinde!«
    Wutschnaubend verlässt Renato den Raum. Leonora nimmt ihren Koffer, ihre Hunde, ihre Katze und den Käfig mit Don Mazarino und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Diesmal für immer. Nur Pete lässt sie zurück, weil sie spürt, dass Renato ihn gern mag. »Du gehörst hierher«, sagt sie beim Abschied zu ihm.
    »Wenn wir könnten, würden wir dich bei uns aufnehmen, aber Benjamin und ich haben ja selbst kaum Platz«, sagt Remedios Varo. »Kitty kannst du ruhig bei meinen Katzen lassen.«
    »Ich werde euch weiterhin besuchen.«
    Im Haus in der Calle Durango bringt Elsie sie auf ihr Zimmer.
    »Hier mögen wir dich alle gern.«
     
    Leonora fertigt Kleidungsstücke für José Hornas Marionetten. Eines Abends, als sie gerade einen Arztkittel näht, hört sie die Puppe plötzlich mit Luis Morales’ Stimme reden. Schreiend rennt sie ins Schlafzimmer der Escobedos und kriecht zu den beiden ins Bett.
    »Du zitterst ja entsetzlich. Hör auf zu weinen, Manuel muss früh aufstehen.«
    »Darf ich eine rauchen?«
    »Nicht im Bett«, knurrt Manuel Escobedo ärgerlich.
    In der nächsten Nacht erscheint Leonora abermals im Schlafzimmer und klettert auf den Schrank.
    »Unten in meinem Zimmer steht der Arzt Luis Morales und will mir Cardiazol spritzen!«
    Elsie beruhigt sie, und nach und nach gewöhnt sich Manuel Escobedo an die nächtlichen Besuche, die ihn aus dem Schlaf reißen, und an die vielen Kippen im ganzen Haus.
    »Dir täte es gut, eine Psychoanalyse zu machen, Leonora«, rät Elsie.
    »Ist das teuer?«
    »Es lohnt sich.«
    »Ich habe meinen eigenen Analytiker in mir, und seine Stimme höre ich ununterbrochen.«
    »Er scheint aber nicht sehr erfolgreich zu sein, lass uns lieber einen anderen für dich suchen. Einstweilen solltest du lesen, um diese Stimme, die dich stumpfsinnig macht, nicht die ganze Zeit zu hören. Oder schaffst du es nicht zu lesen?«
    »Doch, manchmal klappt es. Mir ist, als würden viele Personen in mir stecken, nicht nur eine einzige. Mein Körper ist wie ein

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