Frau des Windes - Roman
in Cuernavaca eingeladen, und da dachte ich, ich besuche dich mal. Ist das hier dein Wohnzimmer?«
»Ja, Remedios Varo nennt es meine magische Grotte und hat es sogar gemalt.«
Teetrinken ist eine flüssige, gemächliche Zeremonie, Leonoras Hände auf der Wachsdecke sind schön – klein mit langen, kräftigen, ringlosen Fingern, den Werkzeugen einer Frau, die leidet und ihre Albträume nicht im Griff hat.
»Bist du denn Herr deiner Träume?«, fragt sie Edward, während sie ihm eine zweite Tasse Tee einschenkt.
»Noch nicht. Weißt du, Leonora, auch ich hatte eine Nanny. Meine erste Reise ins Ausland habe ich als Vierjähriger unternommen, und zwar nach San Remo. Ich erinnere mich noch an das Heer der Bediensteten, Kindermädchen und Sekretäre, die sich auf dem Schiff tummelten, und daran, dass sie, als wir über Land weiterfuhren, beinahe einen ganzen Eisenbahnwaggon füllten. Kindermädchen sind unverzichtbar im Leben eines Kindes aus unserer Gesellschaftsschicht. Meine Mutter hat einmal zu meiner Nanny gesagt: ›Ich will eines der Kinder mit in die Messe nehmen.‹ ›Welches denn, madam ?‹, hat das Mädchen gefragt. ›Das Kind, das am besten zu meinem Kleid passt.‹«
»Durch meine Nanny habe ich die Sidhe kennengelernt.«
»Ja, die Sidhe, die kenne ich sehr gut. Jetzt würde ich liebend gern dein Atelier sehen, Leonora.«
»Komm, ich zeige es dir.«
Sie gehen die Treppe hoch und betreten einen Raum von der Größe eines Taubenschlags.
»Ist das dein Allerheiligstes?«, fragt er erstaunt. Die Künstler, mit denen James bis jetzt zu tun hatte, arbeiten in einem Atelier, das ihrem Werk und ihren Einkünften angemessen ist. »Unglaublich. Hier entstehen also die Gemälde, die mich so faszinieren? In diesem Loch?« Er kann es kaum fassen.
Niemand außer Leonora würde den kleinen Raum Atelier nennen, ein winziges Zimmerchen mit schlechter Beleuchtung, in dem James zu allem Überfluss noch einem jungen Mädchen mit Besen ausweichen muss, mit dem er fast zusammengestoßen wäre.
»Putz jetzt nicht hier, wir haben Besuch«, bittet Leonora das Mädchen.
James tritt zur Seite, noch immer verblüfft darüber, dass Leonora noch phantastischer ist als die Figuren, die sie malt. Dieses schäbige, licht- und luftarme Loch begeistert ihn. Auf einem Tisch winden sich Farbtuben neben einer Palette, ein Aschenbecher quillt über, eine Spinne webt ihr Netz. Leonora hebt alles auf, was herrenlos und verwaist ist, ebenso gut könnte sie auf einer Müllhalde malen. Dieses Kabuff ist genau der richtige Ort für bizarrste Geistesgebilde, es beunruhigt und inspiriert ihn. Man hatte ihm ja gesagt, Leonora sei originell, doch nie hätte er gedacht, dass sie es auf diese wundervolle Weise ist. Sie kopiert nichts bei anderen, ahmt keinen Max Ernst nach, ihre innere Welt gehört ihr ganz allein. Dieses Schafott trägt ausschließlich Leonoras Spuren. Sie ist eine Gefangene ihrer selbst, zum Malen verdammt.
Das Leben als Mutter nimmt sie voll und ganz in Anspruch. Windeln, Fläschchen, Geschrei – ›Was hat der Kleine bloß?‹ –, schlaflose Nächte und der staunende Chiki, der immer ein wenig abseits steht, all das bewältigt sie in einem Drahtseilakt. Und auf der Staffelei steht die Leinwand. Nie hat sie eine solche Schaffenskraft verspürt.
Der begeisterte James will Leonora vier Bilder abkaufen und bietet ihr dafür eine so lächerliche Summe, dass sie ihn wütend zur Tür bringt, ohne zu merken, wie sehr sie damit in seinen Augen an Achtung gewinnt. Edward James, ein Mann, der seinen Launen stets bedenkenlos nachgegeben und sich über alle Konventionen hinweggesetzt hat, wird bewusst, dass Leonora noch rebellischer ist als er. Von früh bis spät bietet sie Autoritäten die Stirn, spottet über die Dinge, die um sie her geschehen, mit einer Freiheit, die James fremd ist. Wie mutig sie ihm die Tür gewiesen hat! Anderntags kommt er wieder, um sich zu entschuldigen, und die Malerin nimmt seine Entschuldigung mit den Worten an: »Willst du eine Tasse Tee?«
Leonora stellt sich ungewöhnlichen Herausforderungen, malt nach eigenen Gesetzen, mokiert sich über das komplexe System gesellschaftlicher Privilegien und begeistert ihre Zuhörer mit ihrer Ironie. Die Malerin ist frei, während James Delirium mit Kreativität verwechselt und Spleens mit Ideen. Gemeinsam mit Leonora schwelgt er in der irischen Sagenwelt, führt sie ein in die Lektüre des Tibetischen Totenbuchs und genießt das Zusammensein mit ihr wie kein
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