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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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entstiegenen Frauen, die sich auf Schnittchenplatten und Weingläser stürzen, und er muss zurückdenken an Madrid und die Verteilung von Brot an die Flüchtlinge. Über jedes Foto legt sich ein anderes. ›Warum tue ich mir das an‹, fragt er sich.
    Wenn Journalisten einen Prominenten belagern, dröhnen ihm die Bomber über Madrid in den Ohren. Eine Reporterin, die für eine Klatschspalte schreibt, macht eifrig Notizen und pflichtet ihrem Gesprächspartner laufend mit ›Ja, licenciado , ganz Ihrer Meinung, licenciado ‹ bei; das Größte auf der Welt ist es, erfolgreich von einer Universität abgegangen und jetzt ein titeltragender Einflussreicher zu sein. Geräuschvoll umarmt man sich, prostet einander zu, dass die Gläser klirren, und jedes Mal hört Chiki die Fensterscheiben von Madrid zerspringen. Entgeistert steht er mit dem Fotoapparat in der Hand vor dem Resultat der mexikanischen Revolution.
    »Hast du irgendwas von Bedeutung aufgeschnappt?«, fragt Leonora, wenn er nach Hause kommt.
    »Ich habe eine Dame von ihren neun Autos erzählen hören, eins für jedes Kind, und mitbekommen, wie ein Abgeordneter einer Sekretärin seine Rolex mit den Worten zeigte: ›Sehen Sie mal, was für ein tolles Ding, es lässt mich nie im Stich.‹«
    »Was er wohl damit gemeint hat?«
    Chiki wechselt das Thema und drängt seine Frau, mit dem Rauchen aufzuhören.
    »Ich schaffe es einfach nicht. Aber jetzt hätte ich Lust auf eine schöne Tasse Tee.«
    Die Geburt des kleinen Gaby versetzt Leonora zurück nach Crookhey Hall, in die Zeiten der Nursery. Sie näht ihm aus rotem Samt eine Sirene mit vielen Taschen, in die man Münzen, Knöpfe und Murmeln stecken kann. Die Mutterschaft regt sie zu häuslichen Tätigkeiten an. Mit Nadel und Faden sitzt sie neben der Wiege.
    »Übrigens, ich habe Renato getroffen«, sagt Kati zu ihr. »Er hat mir dieses Gedicht für dich mitgegeben: ›Als Sie kamen / und die andere ging, / schauten wir, schauten wir? / mit jenem Blick, der nichts sagt, / auf die zarten Tassen, / auf ein Zuckerstück, / auf die bernsteinfarbenen Blasen im Tee. / Zeigefinger und Daumen, / so dünn, so dünn, / dass ich denke, / als Sie die Tasse heben: / Diese Finger werden brechen … / Wo waren Sie? … / Zeigefinger und Daumen heben die Tasse. / Ihr Blick antwortet, / so tiefgründig, so erstaunlich, / ein Geschenk vom Christkind, sagen Sie. / Zeigefinger und Daumen / lassen langsam die Tasse sinken. / Wo waren Sie? … / Und Ihre Stimme: Wissen Sie was? … / Ich habe mich verbrannt …‹
    »Ich lade ihn mal zum Abendessen ein«, sagt Leonora lachend.
    Esteban Francés erzählt ihr, der große Kunstsammler Edward James bewundere sie und Remedios.
    »Er hat dich zusammen mit den Escobedos in Acapulco am Strand gesehen, angeblich hast du ihn aber überhaupt nicht beachtet, sondern die ganze Zeit gelesen.«
    »Und was macht dieser Engländer in Mexiko-Stadt?«, fragt Leonora.
    »Du weißt doch, James ist ein komischer Kauz, der nach Lust und Laune durch die Gegend reist. In New York haben Peggy Guggenheim und Man Ray ihm von dir erzählt. Für Maler wie uns ist Mexiko das reinste Grab. Du hast zwar in diesem Schacht der Angst schon Wurzeln geschlagen, aber ich frage mich wirklich, wie es mit dir und deinem Kind weitergehen soll. Du verkaufst ja nichts, da wäre es schon vernünftig, von diesem Mäzen zu profitieren. Sein Schützling René Magritte hat ihn vor einem Spiegel von hinten gemalt, und zwar so, dass jedes einzelne Nackenhaar zu erkennen ist. Die verbotene Reproduktion hat er das Bild genannt.«
    Mit der Zeit entdeckt Leonora immer mehr Ähnlichkeiten zwischen sich und James. Auch er ist Engländer, exzentrisch, vornehm, ein unzufriedener Mensch wie sie und zudem Besitzer eines Schlosses in England. Wie sie wurde er von Cecil Beaton porträtiert – nie aber von Max Ernst im Morgenlicht. West Dean House ähnelt Crookhey Hall, und in Edward James’ surrealistisch ausgestattetem Anwesen Monkton House stehen zwei von Dalí entworfene lippenförmige Sofas mit rosafarbenem Satinbezug, die Lippen von Mae West, sowie dessen Hummer-Telefon .
    Leonoras Wohnung in der Avenida Álvaro Obregón ist das absolute Gegenstück zu allem, was James kennt. Er betritt einen dunklen Flur, der ihn in die Küche führt, wo er sich auf einen harten Stuhl setzt und Leonora ihm einen Tee anbietet.
    »Was treibst du so in Mexiko?«, fragt sie ihn, während sie Wasser aufsetzt.
    »Ein Studienkollege aus Oxford hat mich in sein Haus

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