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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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kommt sie nach Mexiko, ich habe nämlich nicht einen Cent. Glaubst du, sie kommt, Kati?«
    »Du hast mir doch selbst gesagt, sie hätte große Lust, dich zu sehen.«
    Sie ziehen in eine Wohnung in der Avenida Álvaro Obregón 174. Immer wieder werfen sich Leonora und Chiki fragende Blicke zu.
    »Ich glaube, ich habe das Herz schlagen gehört.«
    Chiki spürt, dass sich unter seinen Händen etwas bewegt.
    »Es strampelt schon.«
    Was wird bloß werden? Beide haben Angst. Leonora stellt das Rauchen nicht ein, und Chiki macht sich Sorgen.
    »Wovon soll man in Mexiko leben, wenn man weder Papiere noch Kontakte hat? Wie werden wir nur zurechtkommen?«
    Ihn erschreckt der Gedanke, ein Kind in die Welt zu setzen, ohne zu wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Leonora nimmt kaum zu und macht nach wie vor lange Spaziergänge durch die Stadt, ohne zu begreifen, dass sie trächtig ist wie eine Stute. Geld ist das größte Problem. Harold hat sie enteignet und sein Vermögen unter Pat, Gerard und Arthur aufgeteilt. Und Chiki stellt sein Licht unter den Scheffel, hebt nie die Hand oder ruft: »Hier bin ich.« Mit der Fotografie verdient er kaum etwas, und seine Frau ist eine unbekannte Künstlerin. Sie leben von dem, was Maurie schickt.
    An ihrer Staffelei malt Leonora The Temptation of St. Anthony, inspiriert von Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel dem Älteren. Den Eremiten setzt sie mit einem schwarzrosa gefleckten Schweinchen ans Wasser, dem Heiligen malt sie drei Köpfe. Ein Mädchen in einem roten Kleid und ohne Haare verbindet Sinnlichkeit und Gaumenfreude und kocht eine Suppe aus Langusten, Schildkröten, Hühnern, Tomaten, Pilzen, Gorgonzola, Schokolade, Zwiebeln und Pfirsichen aus der Dose. Aus dem Kessel fließt ein grünlich vergorenes Gebräu. Der Eremit, der sich nur von trockenem Gras und lauwarmem Wasser ernährt, erhält Besuch von Salomons Ehefrau, der Königin von Saba, und deren Gefolge.
    Eine Brieftaube fliegt von Katis zu Leonoras Haus. Kati hat sie gezüchtet.
    Leonora malt mit Feuereifer, ohne zu wissen, was aus ihren Bildern werden wird. Erst einmal braucht sie Geld fürs Krankenhaus.
    »Ich bin stark«, sagt sie. »Am Tag nach der Entbindung setze ich mich wieder an meine Staffelei.«
    »Du ahnst nicht, wie viel Zeit ein Neugeborenes in Anspruch nimmt«, sagt Elsie Escobedo.
    »Magst du Kinder, Leonora?«, fragt Remedios.
    »Nein.«
    »Und Chiki, mag der Kinder?«
    »Soweit ich weiß, nicht.«
    Zwei Tage vor ihrer Entbindung vollendet Leonora L’amor che move il sole e l’altre stelle , ein Bild, zu dem ein Vers aus Dantes ›Paradies‹ sie inspiriert hat. Die goldene Kutsche, die einer der Tarotkarten entstammt, kündigt neues Leben an. Ein rotgekleidetes Paar wirft die Arme in die Höhe und tanzt zu Ehren von Liebe und Licht. Kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes bedient die Malerin sich erstmals religiöser Elemente, indem sie die Vision des Propheten Ezechiel von Gottes Thronwagen aufgreift.
    Als man ihr ein kleines rotes Ding in die Arme legt, ein winziges, pulsierendes Etwas, das den Mund öffnet, ist Leonora fassungslos. Noch nie hat ihr Herz so laut geschlagen.
    »Das ist Ihr Sohn«, sagt die Frau in Weiß. »Nehmen Sie ihn.«
    »Wie denn?«
    »Legen Sie ihn sich auf die Brust.«
    Das Kind ist eine wunderschöne Last.
    »Er sieht genauso aus wie Sie«, findet die Krankenschwester.
    Am 14. Juli 1946, dem Tag des Sturms auf die Bastille, tritt Leonora durch den Spiegel in eine Welt, von der sie sich keine Vorstellung gemacht hatte: die der Mutterschaft. ›Nie hätte ich gedacht, dass ich zu solchen Gefühlen fähig bin.‹ Schon im Krankenhaus macht sie sich Sorgen: ›Friert er vielleicht oder hat er Hunger? Schläft er auch gut?‹ Remedios, ebenfalls besorgt, geht zum Rauchen auf den Flur. Am aufgeregtesten ist Chiki, der sich mit Kati auf Ungarisch unterhält.
    »Wir nennen ihn Harold«, beschließt Leonora.
    »Was? Mit deinem Vater bist du doch zerstritten«, ruft ihr Mann.
    »Ich will, dass er Harold heißt.«
    »Er hat dich enterbt.«
    »Ich will, dass er Harold heißt.«
    »Also gut, Harold Gabriel«, schlägt Chiki vor.
    »Ganz Frankreich feiert seine Geburt«, sagt Kati lächelnd.
    Morgens geht Chiki aus dem Haus und macht Fotos für die Rotarier, die bei ihren Benefizveranstaltungen Spenden sammeln, um Schulen mit Trinkwasser und Lehrmaterial auszustatten und Altenheime mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Staunend beobachtet Chiki die geschminkten und soeben dem Schönheitssalon

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