Frau des Windes - Roman
nehmen.
»Jetzt siehst du aus wie Nanny Carrington, die Arthur in den Schlaf wiegt.«
»Sie lebt noch und will dich sehen. Wann kommst du nach England?«
»Wenn Gaby größer ist.«
Mit keinem Wort berührt Maurie die Themen der Vergangenheit, fragt weder nach dem Haus in Saint-Martin d’Ardèche noch nach der Wohnung in der Rue Jacob. Nicht ein einziges Mal erwähnt sie die Nervenklinik in Santander. Es würde sich nicht ziemen, über diese Dinge zu reden. Wozu auch? Merkwürdiger ist freilich, dass sie nur selten von Harold spricht, der im Januar 1946 gestorben ist. Der Wind hat alles auf seinen schwarzen Flügeln davongetragen. Der Name Ernst kommt nie über ihre Lippen, obwohl Leonora einmal, als sie den Blick von der Staffelei hebt, bemerkt: »Dieses Bild würde Max gefallen.«
»Was machen meine Brüder eigentlich mit dem Geld, das mein Vater ihnen hinterlassen hat?«, fragt sie.
»Trinken.«
Maurie vergräbt die Vergangenheit unter dem grünen Rasen von Hazelwood, damit er sprießt. Vielleicht ist deshalb ihre Haut so weiß und rosig, liegt dieser Glanz in ihren Augen, probiert sie so genießerisch die Quesadillas und umarmt ihren Enkel mit solcher Zärtlichkeit. Chiki sieht sie nur bei den Mahlzeiten. Und was die Zukunft ihrer Tochter in diesem tropischen Land betrifft, in dem die Leute barfuß laufen, da macht sich Maurie keine Illusionen. Sie ist verblüfft, mit welch bedingungsloser Hingabe Leonora den kleinen Gaby betreut. So nah ist Maurie ihren eigenen Kindern nie gewesen. Es waren andere, die sie im Arm gehalten haben. Leonora taucht ihren Ellbogen ins Wasser, um die Temperatur zu prüfen, bevor sie den Kleinen badet und ihn danach mit erstaunlichem Geschick anzieht.
»Wo hast du das nur alles gelernt?«
»Mein Mutterinstinkt.«
Von morgens bis abends brodelt Teewasser. Beim Frühstück serviert Leonora Papaya, und Maurie greift zu. Die mexikanischen Apfelsinen sind fast so lecker wie die aus Valencia. Leonora lässt sich Zeit beim Kartoffelkochen und vor allem beim Zubereiten des Rühreis nach mexikanischer Art.
»So etwas Köstliches habe ich noch nie gegessen. Den Tag mit einem mexikanischen Frühstück zu beginnen ist ein Geschenk des Himmels.«
»Ein Geschenk von Quetzalcóatl, Mama.«
Als die Mutter sich wundert, wie problemlos Leonora der Göttername über die Lippen kommt, zeigt diese ihr ein Heft, in dem sie sich lauter unaussprechliche Namen notiert hat.
Ein Jahr später wird Pablo, ihr zweiter Sohn, geboren. Leonora malt Chiki, ton pays , eine Erinnerung an den Weg ihres Mannes von Ungarn über Frankreich und Spanien nach Mexiko. Wieder erscheint ein Wagen, diesmal ein roter, der Wagen der Verliebten. Er rollt über eine Unterwelt dahin, vor sich das Fell eines Jaguars, des mythologischen Tieres Mexikos. Chiki bekommt Füße, sie selbst Hufe.
Leonora blüht auf, ist die Mütterlichkeit in Person und glücklicher denn je. Die Kinder kommen aus den Ecken gekrochen, nehmen das ganze Haus in Beschlag, stürmen die Treppe hoch, lassen die Türen auf, an jedem Fenster lacht ein schokoladenverschmiertes Gesicht, und aus jedem Lachen blitzen Milchzähne hervor.
Atlantik in Sicht
Leonoras innere Bezugswelt ist die keltische Mythologie, Mexiko indessen erlebt sie mit Haut und Haar, wenngleich die Einheimischen in ihrer eigenen, verschlossenen Welt verharren, deren Geheimnis sie vor Jahrhunderten vergessen haben.
Auch Chiki lebt an einem geheimen Ort. Mexiko ist grausam, wutgeladen, Ausländer zu sein, ein Stigma.
Zu Hause regiert Leonoras englische Vergangenheit. Ungarn, Chikis Heimat, ist in die Dunkelkammer verbannt. Beim Mittag- und Abendessen dreht sich alles um Schulprobleme, zu viert suchen sie nach Lösungen. Sie sprechen Französisch, Chiki hasst Englisch, Leonora aber besteht darauf, dass ihre Söhne die Sprache lernen. »In Hazelwood wartet ihre Großmutter auf sie, wie sollen sie sich dort verständigen?«
Chiki streitet mit Gaby.
»Du musst dich den Umständen anpassen.«
»Das schaffe ich einfach nicht! Ich lebe in einer Welt ohne Sinn und Verstand, die ich mir nicht ausgesucht habe!«
Leonora ergreift Partei für ihn. Gaby quält sich mit Mathematik, also bleibt Chiki so lange bei ihm sitzen, bis die Hausaufgaben erledigt sind.
Chiki hat Angst um seine Söhne, ist besorgter als alle übrigen Eltern an der Westminister School. Manche überwachen nicht einmal die Hausaufgaben, Chiki hingegen überträgt seine Nervosität auf die Kinder.
»Heute dürft ihr
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