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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Essen hat sie sich hingelegt, weil sie sich schlecht fühlte, anscheinend war es ein Herzinfarkt.«
    Leonora kommen Katis Worte so absurd vor, dass sie ihr nicht glaubt, sondern weiter ihren Tee trinkt und sich eine Zigarette anzündet, als wäre nichts geschehen. Ohne ein Wort zu sagen, geht sie hoch ins Schlafzimmer, greift nach einer ihrer Puppen, zieht ihr einen bunten Rock an und wickelt sie in eine Decke. Sie will das Bett vorbereiten, um sie hineinzulegen, und wirft Laken, Kissen und Überbett auf den Boden. »Leonora, ich muss Alice Bescheid sagen«, hört sie Kati von unten rufen, dann fällt die Haustür ins Schloss.
    Ausgerechnet jetzt ist sie allein, die Kinder sind in der Schule, Chiki ist unterwegs, um Fotos zu machen, niemand ist da, um auf sie aufzupassen. Als ihr Mann zurückkommt, findet er sie in so trostloser Verfassung vor, dass er Walter Gruen holt.
    Während der Totenwache sitzen Kati, Eva Sulzer und Remedios’ Hausmädchen in einer Ecke und weinen. Leonora kann nicht weinen. Ratlos schauen die Trauergäste einander an, Walter begrüßt sie, ohne sie zu sehen, umarmt sie wie Statuen. Etwas Schlimmeres hätte ihm nicht passieren können. Seine Angestellten senken den Blick, unfähig, ihm in die Augen zu schauen. Dieser starke Mann, der ein Konzentrationslager überlebt hat, ist völlig am Boden zerstört. Er hält sich die Ohren zu und geht nach draußen, um Luft zu schnappen.
    »Die Mexikaner haben recht, im Oktober ist der Mond immer am schönsten«, sagt Leonora zu Chiki, der mit ihr zum nächtlichen Himmel hinaufschaut.
    »Beruhige dich, Leonora, du rauchst eine Zigarette nach der anderen.«
    Leonora hört nicht zu, sie hört auch ihre eigenen Worte nicht, sie schließt sich ein in ihre innere Zelle und erinnert sich an den Tag, als Remedios zu ihr gesagt hat, sie beide seien wie der Fuchs und der kleine Prinz: ›Und als die Stunde des Abschieds nahe war: „Ach!“, sagte der Fuchs, „ich werde weinen.“‹ Zornig grübelt sie nach über jedes einzelne Wort. Chiki betrachtet sie traurig und empfindet plötzlich unendliches Mitleid mit dieser Frau, die verzweifelt an ihrer Zigarette zieht, die sich krümmt wie eine Greisin, den Kopf auf den Knien, das Gesicht verborgen. Ganz klein macht sie sich, rollt sich zusammen zu einem Knäuel, aus dem ein kaum hörbares Flehen dringt: »Kann nicht mal irgendjemand diesen Leuten sagen, sie sollen aufhören zu weinen?«
    Am anderen Morgen wird Remedios’ Leichnam auf dem Friedhof Panteón Jardín bestattet, dreißig Meter vom Grab ihres Freundes José Horna entfernt.
    »Sie werden einander Gesellschaft leisten«, murmelt Kati, müder denn je.
    Leonora sucht Trost in ihrem Atelier. Sie malt Burial of the Patriarchs : Eine Figur, die einen mit einem Hermes-Symbol versehenen Stab in der Hand hält, geleitet die Seelen der Patriarchen auf einem Kanu ins ewige Leben. Sie liest Giordano und die hermetische Tradition von Frances Yates und malt The Burning of Bruno. Den Philosophen bewundert sie für seine mutigen Worte – ›Die Gottheit ist nicht in der Ferne zu suchen; denn sie ist uns nahe‹ –, Anlass für die Inquisition, ihn vor Gericht zu stellen, zum Ketzer zu erklären und auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.
    Schreibend ergänzt Leonora ihre Bilder: Ihr Roman Das Hörrohr entsteht. ›Manchmal fühle ich mich so unverstanden wie die Jungfrau von Orleans‹, ruft die neunundneunzigjährige Protagonistin Marion Leatherby, die von der Verwandtschaft in ein Altenheim gesteckt wurde. ›Und oft meine ich auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, weil ich so anders bin als alle hier.‹
    ›Das bin ich selbst‹, denkt Leonora. Wer hat sie verstanden? ›Remedios, Remedios hat mich verstanden.‹
    Chiki weiß sich keinen Rat. Nachts schreit Leonora. Mit dem Tod ihrer Freundin kehrt, machtvoller denn je, eine alte Bekannte zurück, die Angst.
    Eines Tages meldet sich Laurette Séjourné, die Witwe von Victor Serge, und fragt, ob Leonora daran interessiert sei, die Entwürfe zu ihrem Wandbild in einem Buch gleichen Namens – El mundo mágico de los mayas – zu veröffentlichen. Leonora sagt zu. Sie fühlt sich wohl in Gesellschaft dieser Frau mit der gewinnenden Stimme, die Französisch mit ihr spricht. Auch Laurette interessiert sich für das Okkulte, die prähispanischen Steine sprechen zu ihr, und in Teotihuacán führt sie Zwiegespräche mit den Göttern. Oben sei unten, sagt sie und verfolgt den Weg der Sterne auf dem lockeren Erdboden. Sie

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