Frau des Windes - Roman
drei Steine nach ihm. / Spuck dreimal Tabak auf ihn. / Diese Mutter des Bösen / frisst mein Herz. / Sie will mir befehlen. / Sie will mit mir streiten.«
»Hier regnet es viel, Chiapas scheint dem Regengott Tláloc zu gehören«, scherzt Leonora.
»Wer in Chiapas ertrinkt, den hat Tláloc dazu bestimmt, in seinem Paradies zu wohnen.«
Die großen Steine im Fluss erinnern sie an Saint-Martin d’Ardèche.
Ein Tier überdeckt mit seinem Geschrei das Rauschen des Wassers.
»Das ist ein Brüllaffe, den hört man noch in über acht Kilometern Entfernung.«
Leonora liegt nichts daran, in ihrem Gemälde das Treiben auf dem Markt darzustellen oder die Landschaft, Vulkane, Hütten, Kirchen, Pyramiden, nicht einmal das Leben auf der Straße interessiert sie. Sie malt ihre innere Welt. ›Die Vernunft muss die Vernunft des Herzens kennen und jede andere Vernunft.‹
»In deinem Wandgemälde sollte ein Regenbogen vorkommen«, rät Trudi. »Der wird hier in Chiapas verehrt.«
»Am wichtigsten ist mir der Schlangengott Quetzalcoátl. Gibt es hier einen Zoo?«
Im Zoo zeichnet sie Schildkröten und Fasane, macht aus Wildschweinen Igel, die an Max’ Figuren in Saint-Martin d’Ardèche erinnern. Gazellen werden zu Zentauren, Löwen haben Echsenzungen, Fische bekommen Zähne, und die Vipern bilden eine Matratze und tanzen für Adam, bevor sie sich um den Baum der Erkenntnis winden.
Mögen die mexikanischen Sitten und Gebräuche sie auch noch so fesseln, sie hat sie nicht im Blut und hält deshalb in ihren Wandbildskizzen die eigene Vergangenheit fest. Ob in den Kirchen mit ihren Glockentürmen oder der Kathedrale von San Cristóbal mit ihrem Säulengang, überall verschmelzen die Elemente ihres Bildes Die magische Welt der Maya mit der magischen Welt der Kelten.
»Etwas so Großes male ich zum ersten Mal«, sagt sie zu Trudi, als sie ihr die Entwürfe zeigt.
»Hab keine Angst, bleib nicht am Ufer stehen«, lautet Trudis Rat.
Zurück in Mexico-Stadt teilt Leonora das Wandbild in drei Segmente auf. In der ›Unterwelt‹ malt sie links einen großen Jaguarkopf, rechts einen Kapokbaum. In der ›irdischen Welt‹ erhebt sich ein weißes Pferd von übernatürlicher Größe. Die Einwohner von Chamula sind klein. Am Himmel, über den eine Schlange fliegt, strahlen Sonne und Mond. Auf der Erde wimmelt es von Tapiren, Aasgeiern, Leoparden und Spinnenaffen. Während sie malt, sagt Leonora sich immer wieder die Prophezeiung des Popol Vuh auf: ›Aus dem Herzen der Finsternis wird das Licht kommen, das uns erlaubt, alles zu sehen, was uns umgibt.‹
Leonora ist mit ganzer Seele bei der Arbeit. Sie hat das Gefühl, in ihrem Innern eine Marimba zu hören, die sie zur Eile drängt. ›Diesen hölzernen Klang würde ich gerne malen.‹ Während sie in San Cristóbal eine Zigarette nach der anderen geraucht hat, um die Mücken zu vertreiben, hinterlässt sie nun einen Vulkan aus Kippen neben ihrer Staffelei.
Die magische Welt des Todes
Nachdem sie das Wandbild fertiggestellt hat, malt Leonora Dolphin Conference, El Rarvarok, Alchimia Avium und Song of Gomorrah .
Remedios erzählt ihr, man habe sie darum gebeten, eine Wand am Eingang eines Krankenhauses zu bemalen. »Ich hatte Angst und habe abgelehnt.«
Sie zeigt ihr das kürzlich beendete Gemälde Auferstehendes Stillleben und Waldmusik , das noch auf der Staffelei steht. »Bei diesem Bild«, erklärt sie, »habe ich das Gefühl, dass es mir fast gelingt, die Einheit von Mensch, Natur und Kosmos darzustellen.«
Am Nachmittag des 8. Oktober 1963 sitzt Leonora in ihrer Küche bei einer Tasse Tee, als stürmisches Klingeln sie zur Tür ruft.
»Warum klingelst du denn so? Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt!«
Sie will lachen, Katis Miene aber lässt sie innehalten.
»Ich habe schlechte Nachrichten«, sagt Kati mit bebender Stimme.
»Was ist los? Du siehst aus, als wäre dir der Leibhaftige begegnet. Komm rein und trink erst mal eine Tasse Tee.«
»Leonora, es ist etwas Schreckliches passiert. Setz dich lieber.«
»Nun sag schon. Was ist denn so schrecklich, dass du Sturm klingeln musst.«
Leonora bleibt im Türrahmen stehen, Kati setzt sich und reibt sich die Hände, als wringe sie einen schmierigen Lappen aus.
»Das Hausmädchen ist zum Sala Margolín gelaufen, um Walter Bescheid zu sagen, aber er kam zu spät.«
»Zu spät wofür?«
»Er konnte nichts mehr tun, Leonora.«
»Ich verstehe nicht, Kati.«
»Heute Nachmittag ist Remedios gestorben. Nach dem
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