Frau des Windes - Roman
Spaziergang.«
Álvaro stolpert.
»Unter unseren Füßen«, erklärt Leonora, »liegt ein zweites Chapultepec mit seinem See, seinen in die Erde wachsenden Sumpfzypressen, seinem Gras und seinen Steinen, die noch schöner sind als die, die wir hier sehen, und das Schloss mit dem Erkerfenster, von dem aus man den Engel der Siegessäule fliegen sehen kann.«
In einem Lichtschein bleibt Leonora stehen und erstrahlt augenblicklich.
»Beweg deine Hände, Álvaro, so wie neulich beim Abendessen. Dann gerätst du wieder in Extase wie unter Psilocybin.«
»Das ist gar nicht nötig, die Extase hat mich nie verlassen.«
Leonora erzeugt beunruhigende Schwingungen um sich herum, die Blätter geraten in Bewegung, nehmen Formen an, die er nie zuvor gesehen hat, kommen auf sie zu, kratzen sie. Selbst mildeste Donnerschläge stürzen sich auf sie herab.
»Jeder einzelne Baum hat eine Persönlichkeit«, versichert sie ihm. »Solange etwas atmet, ist es schön. Wenn es tot ist, gehört es auf den Müll. Vieles, was ich geliebt habe, ist im Rinnstein gelandet.«
»Was denn?«
»Männer!« Sie kickt ein Steinchen fort, das im Weg lag.
Álvaro ergreift ihre Hand und staunt, wie klein sie sich anfühlt.
»Komm, ich lade dich ein, auf einen Drink, einen Kaffee, was du willst.«
»Bei Sanborn’s? Da gefällt es mir.«
Sie lächelt zuversichtlich, und auch im Café kann sie nicht damit aufhören. Von ihrem Drink steigt ihr die Röte ins Gesicht.
»Ich möchte dich mit Freunden von mir bekannt machen; der eine heißt Pedro Friedeberg, die andere Bridget Tichenor, Bridget besitzt einen wunderschönen de Chirico.«
Als Álvaros Wagen an der Ecke Calle Monterrey, Calle Chihuahua hält, springt Leonora aus dem Wagen und verkündet, kurz bevor sie die Tür schließt:
»Ich verzaubere die Leute. Ich bin in deinen Körper geschlüpft, ohne dass du es gemerkt hast.«
Sie gehen jetzt oft zwischen den Sumpfzypressen spazieren. Eines Nachmittags zeigt Leonora auf einen Baum mit dunklen, weit in den Himmel ragenden Ästen, schließt die Augen und hält sie geschlossen.
»Für mich bist du die Festigkeit dieses Baumes«, sagt sie.
Álvaro überreicht ihr eine Perlenkette, und sie schaut ihn lange an.
»Dein Geschenk berührt mich sehr, denn Perlen sind Wahrheitssucherinnen. Deshalb entstehen, leben und wachsen sie in einer Muschel – sie wollen wesentlich sein. Mit dieser Kette hast du mir ein Mittel zur Wahrheitsfindung an die Hand gegeben.«
»Wie feierlich!«, sagt Álvaro schmunzelnd.
Leonora ärgert sich.
Álvaro staunt, dass Leonoras Künstlerfreunde so empfindlich sind. Selbst die weltgewandte Bridget Tichenor ist auf die Zustimmung anderer angewiesen, ganz zu schweigen von Pedro Friedeberg, der mit seinem Esprit und seinen Verkleidungen dazu berufen scheint, allen zu gefallen. Wie verschreckte Vögel lesen sie die Zeitung, die in ihren Händen zittert. Sie empfinden es als Kränkung, wenn sie zu einem Treffen nicht eingeladen wurden, auf einem Foto keine gute Figur machen oder gar nicht darauf erscheinen, wenn sie vergeblich versuchen, die bedeutendsten Kunstkritiker zu erreichen. »Niemand hat mir Bescheid gesagt.« Niederlagen schreiben sie der Verwaltung des staatlichen Kunstinstituts zu, sind am Boden zerstört, wenn keiner zu ihren Vorträgen erscheint, wo doch bei denen von Carlos Fuentes die ausgefallensten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Publikum sitzen. Ein entsetzliches Drama. »Man boykottiert mich, man hasst mich, ich wandere aus, armseliges Mexiko, das von Kunst keine Ahnung hat.«
Am wenigsten von allen lässt sich Leonora beirren, die im Namen ihrer Kunst das Recht verteidigt, Veränderungen zu fordern. »Mir ist aufgefallen, dass die Mexikaner in öffentlichen Dingen kein Wort mitzureden haben. Macht haben hier nur die Regierenden, nicht die Regierten. Warum sollten wir uns den Politikern fügen?« Und Álvaro amüsiert sich über ihr wütendes Gesicht, wenn sie sagt: »Ich hasse die Parteien.«
Als er eines Tages an der Ecke Calle Roma, Calle Liverpool eine kleine Wohnung mietet, entdeckt Leonora die Liebe neu. Sie hat Leidenschaft und Liebeswahn erlebt, nie aber dieses alltägliche Gefühl, das von morgens an zu wachsen beginnt. Sie hat Besessenheit gekannt, Abhängigkeit von Max, von Renato, von Chiki, doch die zärtliche Liebe eines ausgewogenen Paares ist etwas Neues für sie. Die Liebe lässt festgemauerte Werte einstürzen, schleudert die Liebenden ins Unbekannte. Breton mit seiner
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