Frau des Windes - Roman
Amour fou würde sich freuen über ihre Entdeckung und über ihre Schönheit, die auch anderen auffällt – »Nie sahst du so gut aus« –, über die Energie, die ihr aus der Wahrhaftigkeit der Liebe erwächst. Bretons Worte über Jacqueline Lamba fallen ihr wieder ein: ›Du bist skandalös schön.‹ Álvaro gibt Leonora das Gefühl, die ›allmächtige Weltenordnerin‹ zu sein.
Sie stellt in der Wohnung eine Staffelei auf, bringt Leinwand und Farbtuben mit.
Ein neues Lebens zu beginnen bedeutet auch, sich von der Vergangenheit zu lösen. Je mehr Leonora von der ihren spricht, umso stärker wächst in Álvaro die Gewissheit, dass extremer Schmerz zum Wahnsinn führen muss. Wenn Leonora ihm davon erzählt, legt sie jedes Mal beide Hände an die Brust, dann auf den Magen, so als würden ihr Herz und Eingeweide aus dem Leib springen wollen.
»Alles, was ich war, habe ich ihm gegeben, ich bin eingetaucht in ihn, und dann hat man ihn mir auf so brutale Weise entrissen, dass mein gerade beginnendes Leben völlig zerbrach. In meinem Gehirn sind die Kabel durchgebrannt, und mit Krampfschocks hat man versucht, sie wieder zusammenzuschweißen. Kennst du Cardiazol? Es wird bei Schocktherapien eingesetzt. Man spritzt dem Patienten Insulin, so hochdosiert, dass er ins Koma fällt. Eigentlich bringt man ihn damit um. Mit dieser Methode soll Schizophrenie geheilt werden, aber Cardiazol zerstört alles, was man in sich hat. Der Schmerz über das, was man mir angetan hat, sitzt hier und hier«, sagt sie und legt ihre Hand auf Herz und Stirn.
Lange nicht mehr hat er so große Achtung vor jemandem empfunden wie vor Leonora. Jemand, der aus Liebe zu derart intensivem Leiden fähig war, muss ein außergewöhnlicher Mensch sein. ›Vor einer solchen Frau auf die Knie zu fallen ist nicht schwer.‹
Leonora hat übersinnliche Kräfte, weist den Weg durch den Abgrund, sie ist Licht und Blüte bei Tagesanbruch. Sie entstammt etwas Unendlichem, etwas Grenzenlosem; sie hat sich verloren und sich wiedergefunden, hat ihren Körper verlassen, jetzt aber strahlt sie Licht aus, eine Aura, die er wiedererkennt. ›Walter Benjamin hat sich das Leben genommen, obwohl es ihm gelungen war, mit seinem Manuskript zu Fuß die Pyrenäen zu überqueren‹, denkt Álvaro. ›Hätte er nur ein wenig abgewartet, wäre alles gutgegangen; man muss immer abwarten.‹ Das Gefühl von Archaischem, Unbekanntem, das Leonora in ihm hervorruft, gewinnt die Oberhand. Und er glaubt ihr, als sie sagt:
»Es gibt unbegreifliche Phänomene, mit denen ich vertraut bin. Sterne sind Männer, Frauen und Kinder, die vor langer Zeit gestorben sind, ich weiß es. Sie sind interstellare Materie.«
»Das sind wir auch«, pflichtet Álvaro ihr bei.
Die Wochenendverabredungen werden zur Gewohnheit. Leonoras Söhne sind erwachsen, und Chiki lässt sich nichts anmerken. Leonoras wahre, schreckliche Reise, die Reise durch den Wahnsinn, lässt Álvaro bisweilen erschauern. Eines Abends, bei Sanborn’s, fällt einem Kellner ein Tablett mit Tellern aus der Hand, erschrocken springt die Malerin auf und ruft: »Lass uns gehen!«
Álvaro, der Kongresse in der Provinz bisher gemieden hat, sagt jetzt zu und entscheidet sich für Necaxa. Vom Golf wehen feuchte Winde herüber und fegen übers Land, und zwischen den Wasserfällen wachsen dichte Wälder. Tief im Tal, in Villa Juárez, einem von Bäumen umgebenen Dorf, nimmt ein schlichtes Hotel sie auf. Stundenlang gehen sie spazieren, ohne müde zu werden, und alles wird ihnen zu einem einzigen dichten Wald, die Gespräche, das Lachen, die Tortillas und der Reis, die Zärtlichkeiten und die Liebe. Manchmal sind sie verschiedener Meinung. Álvaro ist pragmatisch, sie folgt ihrem Instinkt, der sie zur Natur führt. Es gebe Samen, sagt sie, die würden mit einer Luftströmung in der Stratosphäre aus den Anden herübergeweht, Samen, in denen Gifte steckten, die sie erkennen könne.
»Gifte?«
»Ja, Álvaro. Unter den Bäumen wachsen heilige Pflanzen und Pilze, lass uns danach suchen.«
Nach langer Wanderung sind sie im tiefsten Wald, als der Abend anbricht. Vögel flattern wie Lichtpunkte zwischen den hohen Ästen umher, andere sitzen zwitschernd auf versteckten Zweigen. Der Geruch nach moderndem Laub vermischt sich mit dem Duft unsichtbarer Blumen.
»Da sind sie, da sind sie, kommt her, meine Lieblinge, kommt, meine Kinderlein.« Leonora hockt sich neben einen Baumstamm. »Das sind sie, hier, iss den.« Sie reicht ihm einen
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