Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
ihnen aus; nur selten schauen die in ihre Schultertücher gehüllten Frauen auf, näher kommen sie erst, als sie Trudi erkennen. Es riecht nach verbranntem Holz, nach Rauch, nach Kopalharz. Der Mais dringt bis in die Häuser.
    »Gib acht auf die Kräuter, tritt nicht auf die Kürbistriebe und die Maisstängel.«
    An der Kirchenpforte sitzen Bettler, mit verschwommenem Blick hinter halb geöffneten Lidern.
    »Der Schnaps, den man ihnen verkauft, ist mörderisch«, sagt Trudi.
    Leonora gefällt das Geklapper der Pferdehufe auf dem Pflaster, sie schaut zu, wie die Tiere an einem in die Mauer eingelassenen Ring festgebunden werden. Als Trudi ihr von einem verhexten Pferd erzählt, will sie es sehen. Am Ende einer Pferdekoppel bockt das Tier unter den Peitschenhieben seines Besitzers.
    »Das ist eine spezielle Peitsche für verhexte Tiere.«
    Unter den staunenden Blicken der Umstehenden geht Leonora auf das Pferd zu, streckt den Arm aus, das Tier senkt den Kopf, und sie legt ihre Handfläche auf seine Augen. Sofort beruhigt es sich.
    »Wie hast du das gemacht?«
    »Ich habe einfach mit ihm gesprochen. Ich spreche die Sprache der Pferde. Jetzt würde ich ihm gerne Zucker geben.«
    Trudi erzählt ihr, wie sie durch Teiche und Flüsse voller Krokodile geschwommen und ohne einen Kratzer aus dem Wasser gestiegen sei. Ihrer Meinung nach passieren in Acapulco schlimmere Dinge als im lacandonischen Urwald. Hier müsse man vor allem vor den Wildschweinen auf der Hut sein, sagt sie. Wenn eine Herde von fünfzig oder hundert Wildschweinen im Gefolge eines wütenden Leittieres hinter einem her sei, könne man sich nur noch gemeinsam mit den Seidenäffchen und Brüllaffen auf die Bäume retten. Eine echte Gefahr seien auch umstürzende Bäume; falle einem da einer aufs Zelt, sei man unweigerlich verloren.
    »Sieben Monate lang sind Frans und ich durch den Regen gewandert, und nach und nach ist alles vermodert, unser ganzes Material, die Filme, unsere Kleidung, das Essen. Der Urwald gab uns regelrecht das Gefühl, krank zu sein.«
    »Ich habe Hunger«, sagt Leonora, um Trudi, die sie mit ihren Heldengeschichten überhäuft, in ihrem Redefluss zu unterbrechen.
    »Gut, dass du’s sagst. Ich hoffe ja, du isst Brüllaffe, Fasan, Hirsch, Tamales und Chipilín-Suppe und natürlich Mais, Mais und nochmals Mais, etwas anderes gibt es hier nämlich nicht. Unsere Tomaten wirst du mit Sicherheit mögen, die habe ich selbst gepflanzt, ich habe einen Uniabschluss als Gartenbauingenieurin.«
    »Keine Sorge, ich esse, was auf den Tisch kommt. Hast du vielleicht Tee?«
    »Natürlich habe ich Tee. Du bist wirklich eine echte Engländerin!«
    Nachts kriecht die Kälte von den Bergen herab. Die Himmelskuppel überzieht sich mit Sternen.
    »Gibt es hier einen Aussichtspunkt zum Sterngucken?«
    »Ganz San Cristóbal ist ein Aussichtspunkt.«
    »Über ein Teleskop zu verfügen, ohne auch sein wesentliches Gegenstück, das Mikroskop, zu besitzen ist ein Zeichen finstersten Unverständnisses. Das rechte Auge muss durch das Teleskop blicken, während das linke ins Mikroskop schaut.«
    »Unser Mikroskop hat Frans der kleinen Schule geschenkt.«
    »Die Kälte erinnert mich an meine Kindheit.«
    Leonora zieht sich für ein paar Tage zurück, um mit Hilfe der Berichte von Bartolomé de las Casas Kopien alter Maya-Handschriften zu entziffern. Sie versucht zu lesen, doch der Urwald lenkt sie ab, endlos könnte sie zuschauen, wie sich draußen die Zweige unter dem stundenlangen Regengeprassel biegen.
    »Fürchtest du dich vor Donner, Trudi?«
    »Hast du gerade den Blitz gesehen?«, unterbricht Trudi sie. »Die Mayas glaubten, der Blitz sei eine silberne Schlange, die bei Gewitter über den Himmel huscht, und immer wenn es blitze, würde diese Schlange ihr Licht zur Erde schicken und auf diese Weise Menschen und Tiere zeugen.«
    »Was ist eigentlich ein Nahual?«
    »Ein kleines Tier, das uns beschützt, unser Doppelgänger aus dem Tierreich. Was glaubst du, ist dein Nahual, Leonora?«
    »Das Pferd. Und deins?«
    »Das Eichhörnchen. Die Schamanin, Heilerin und Zauberin Pasakwala Kómes sagt, ich sei eine Ziege.«
    Trudi ist ununterbrochen in Bewegung und scheint nie müde zu werden. Leonora wundert sich über ihre Energie. Woher nimmt sie sie nur?
    »So viel, wie ich gelaufen bin, hätte ich wohl dreimal die Erde umrunden können. Und du, Leonora?«
    »Ich zirka fünfmal, ich bin mehr umhergewandert als der ewige Jude.«
    Auch Leonora ist unermüdlich, Trudi aber

Weitere Kostenlose Bücher