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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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entschlüsselt die Zeichen, versteht sogar das Schweigen der Steine. Ehrfürchtig lauscht Leonora ihr; sie sagt, die mexikanischen Götter trügen kein bisschen Liebe in sich, züchteten ihren Groll und rächten sich für vermeintliche Beleidigungen. Mit einem Obsidianmesser würden sie einem das Herz aus dem Leib schneiden.
    Mit ihrer beruhigenden Stimme erzählt Laurette ihr eine Legende:
    »Die Vögel stritten sich darum, wer der wichtigste unter ihnen sei. Da berief der Große Geist eine Versammlung ein, um einen der Vögel zum Herrscher über alle anderen zu ernennen.
    ›Bestimmt wird er den Vogel mit dem süßesten Gesang erwählen‹, sagte die Nachtigall.
    ›Da irrst du dich‹, erwiderte der Adler, ›wer regiert, muss stark sein.‹
    ›Mich sollte die Wahl treffen, ich habe eine tadellose Laufbahn vorzuweisen, und alle bewundern mein scharlachrotes Federkleid‹, meldete sich der Kardinalsvogel.
    Dzul Cutz, der Pfau, der ein hässliches Federkleid trug, bat den Vogel Puhuy, ihm seine Federn zu leihen, und versprach ihm als Gegenleistung, seinen Reichtum und seine Ehrungen mit ihm zu teilen.
    Der Vogel Puhuy vertraute ihm seine Federn an, und der Große Geist wählte den Pfau zum König der Vögel. Nach seiner Krönung aber vergaß Dzul Cutz, das Federkleid zurückzugeben. Da beschloss der Große Geist, Dzul Cutz solle jedes Mal, wenn er seinen wundervollen Schwanzfächer öffnete, ein hässliches Krächzen von sich geben, so würden alle ihn auslachen.«
    »Was du mir da erzählst, hört sich an wie die Biografie der Macht.«
    »Ganz genau.«

Von einer neuen Liebe
    Leonora spürt den Blick. Mit einem Whisky in der Linken steht Álvaro im Empfangssaal der britischen Botschaft und beobachtet sie.
    »Du bist die schönste Frau auf dem ganzen Fest.«
    »Das hat man mir schon tausendmal gesagt.«
    Seine Züge sind von der Makellosigkeit einer Medaille, und sein Blick lässt sie unumwunden gestehen:
    »Du könntest mich lieben, wie ich geliebt werden will.«
    »Hier bin ich«, antwortet er nur.
    Von einer Sekunde auf die andere verändert sich Leonoras Leben. Die Gesetze der Physik gelten nicht mehr, als sein Gesicht sich dem ihren nähert, kühn, wohlgeformt. Leonora überkommt eine Ahnung, von der ihr schwindelig wird.
    »Ich habe ein Vorgefühl.«
    »Wovon?«, fragt er ungeduldig.
    »Von Verlust.«
    Der englische Botschafter bittet zu Tisch, jeder nimmt seinen ihm zugewiesenen Platz ein. Sie sitzt zur Rechten des Gastgebers und sieht, wie die Frauen am anderen Tischende ihm das Gesicht zuwenden, geschminkte Frauen mit glänzendem Haar und lackierten Fingernägeln, Schönheitssalons entstiegene Wesen, die sich selbst lieben, so wie es die Modezeitschriften empfehlen.
    »Er ist ein großer Chirurg«, erzählt ihr der Botschafter. »Álvaro Lupi hat vielen das Leben gerettet.«
    Beim Kaffee erfährt sie, dass er mit dem Peyote-Kaktus und mit halluzinogenen Pilzen experimentiert, und fragt ihn nach Psilocybin.
    »Für mich war es eine Offenbarung, ich habe den Hals gereckt, die Arme in die Luft geworfen und angefangen, wie Fred Astaire zu tanzen. Ich war Herr über alle Entfernungen, über Luft und Raum. Selbst als ich wieder saß, haben meine Hände sich weiter zum Klang der Musik bewegt, und das Spiel des Lichts zwischen meinen Fingern hat mich in Extase versetzt.«
    Leonora lauscht ihm mit angehaltenem Atem.
    »Du hast ein präraffaelitisches Gesicht«, sagt sie.
    »Ich freue mich, dass du das sagst.«
    Sie verabredet sich mit ihm im Wald von Chapultepec.
    »Unter den Bäumen kann man besser nachdenken. Treffen wir uns um vier in der Calzada de los Poetas?«
    Álvaro sagt Termine ab. Seit Jahren war er nicht mehr in Chapultepec, findet den vereinbarten Treffpunkt trotzdem ohne Mühe. Er sieht sie näher kommen, in Schwarz, mit wehendem Regenmantel, dem ihre weiten, rhythmischen Schritte Schwung verleihen. Ohne jede Koketterie kommt sie auf ihn zu.
    ›Kein Wunder, dass sie Malerin ist‹, denkt er. Jede ihrer Gesten verströmt ein eigenes Licht. Plötzlich verfinstert sie sich, um im nächsten Moment wieder zu erstrahlen, und ihn absorbiert sie und reflektiert ihn zugleich. Ärgert sie sich, verdunkelt er sich, lächelt sie, leuchtet er auf.
    Während sie nebeneinanderher laufen, zeichnet Leonora Kreise auf den Boden. Álvaro will wissen, warum. Sie sagt, böse Geister könnten sie beide durch die Luft davontragen.
    »Gehst du nie zu Fuß, Álvaro? Meine Probleme löse ich oft bei einem langen

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