Frau des Windes - Roman
übertrifft sie. In der Bibliothek unterbricht sie sie bei der Arbeit und regt sie auf mit ihren Hiobsbotschaften aus dem lacandonischen Urwald.
»Ich will, dass diese unverschämte Regierung den Urwald zum Nationalpark erklärt. Und ich glaube, mit Chan Kin Viejos Hilfe schaffe ich das auch.«
Chan Kin, der spirituelle Führer der Lancandonen, ein alter Mann mit langem Haar und unstetem Blick, ist eine geheimnisvolle Erscheinung. Er läuft barfuß und trägt eine Tunika, die früher mal weiß war. Chan Kin taucht in Na Bolom auf und schnüffelt im Haus umher. Nähert man sich ihm, laufen ihm Schauer über die Haut. Die Lacandonen erinnern Leonora an die Sidhe, sie verstecken sich hinter Bäumen und leben im Dschungel.
»Akzeptieren die Lacandonen dich, Trudi?«
»Ja. Bei jeder unserer Expeditionen bringen Frans und ich ihnen Medikamente, Äxte und Macheten mit. Zurzeit wohnen drei Lacandonen in Na Bolom und warten darauf, von mir geheilt zu werden. Ich staune über ihre Intelligenz. Innerhalb von zwei Wochen haben sie gelernt, manierlich zu essen. Sie baden in meiner Badewanne, rauchen und benutzen die Aschenbecher.«
In San Cristóbal sorgen die Jungen für die Alten. Wenn sie merken, dass deren Sehkraft nachlässt, lecken sie ihnen über die Augen, zerkleinern ihnen die Nahrung, füttern sie und teilen ihr Essen mit ihnen. So geben sie ihnen etwas von dem zurück, was sie als Kinder von ihnen bekommen haben.
Die kleinen, grazilen Lacandonen mit ihrem dichten, langen Haar kommen aus dem Urwald zum Haus der Bloms, stehen plötzlich im Garten und rufen nach Trudi.
»Komm schnell, seit heute Morgen ist meine Frau krank.«
Trudi heilt Grippen und Erkältungen, verarztet Wunden, sorgt für gute Ernährung und flößt Respekt ein. Leonora mietet sich ein Fahrrad und radelt durch den Ort, so wie es die Leute in San Cristóbal tun. In den Straßen von Chamula schlägt ihr Sympathie entgegen, die Frauen schenken ihr Stickereien, manche, selbst fast noch Kinder, tragen ihren Sprössling in einem Wickeltuch auf dem Rücken. Auf Schritt und Tritt begegnet ihr Elend, aber auch die Magie dieser Menschen, die in ihrer traditionellen Kleidung und den mit bunten Bändern verzierten Hüten einen prachtvollen Anblick bieten.
Leonoras Heft füllt sich mit Skizzen.
»Willst du mal die Heilerin Tonik Nibak kennenlernen? Wir bringen dich hin«, schlägt Pasakwala vor. Gemeinsam sitzen sie in ihrem ziegelgedeckten Holzhaus. »Solange es Worte gibt«, sagt Pasakwala, »gerät nichts in Vergessenheit, nur mit Worten haben wir ein Gedächtnis, und solange es ein Gedächtnis gibt, existiere ich.«
»Glaubst du, ich existiere, Pasakwala?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass du unbedingt gebraucht wirst.«
Leonora betritt Toniks Hütte, in der eine gebückte Greisin mit tränenfeuchten Augen sie misstrauisch empfängt. Mit Hilfe von Kräutern und Kopalharz unterzieht die alte Frau sie einer spirituellen Reinigung und warnt sie vor den Mächten des Todes, die nachts aus der Unterwelt kommen und vor denen man sich in Acht nehmen müsse. Leonora erzählt ihr, dass sie fast immer von einem Ameisengewimmel träumt.
»Bekreuzigst du dich vor dem Einschlafen? Dein Traum bedeutet, dass dich viele neidische Menschen verfolgen.«
»Und was soll ich tun, damit dieser Traum aufhört?«
»Sterben.«
»Werde ich sterben?«
»Im Gegenteil, du wirst sehr alt werden, hundert Jahre oder älter.«
Die Schamanin reicht ihr eine Schale Pozol.
»Was ist das?«
»Lehne es nicht ab, trink es«, befiehlt ihr Trudi. »Es ist ein Getränk aus Mais, Wasser und Kakao.«
»Ich liebe Kakao, es schmeckt köstlich.«
Die radelnde Leonora wird in San Cristóbal zu einem vertrauten Bild.
»Warum zeichnest du uns nicht einen Kapokbaum?«, fragt Pasakwala, als Leonora sie bittet, ihr die Geschichte von Xólotl zu erzählen. »Xólotl war ein Gott, der sich, um nicht zu sterben, in andere Wesen verwandeln konnte, so lange, bis er schließlich im letzten Wesen erstarrte. Die Sonne brauchte das Blut der Götter, und da Xólotl davonlaufen wollte, verwandelte sie ihn für immer in einen grässlichen Fisch.«
Bei ihren Gesprächen mit Pasakwala, Josefa und Chica offenbart sich Leonora eine Welt ähnlich wie die der Sidhe. Josefa rezitiert ein Gedicht über den Regenbogen: »Der Regenbogen beißt mich, Kajval. / Da, er schaut mich an. / Der Regenbogen verfolgt mich, / er kommt bis in mein Haus. / Schick ihn fort, schmeiß ihn raus, weg mit ihm! / Wirf
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