Frau des Windes - Roman
Pilz.
»Du bist verrückt.«
»Sag so etwas nicht zu mir! Ich weiß, was ich tue, iss ihn. Schau.« Und im nächsten Moment beginnt sie zu kauen.
»Vielleicht ist er giftig.«
»Natürlich nicht, da bin ich mir sicher, steck ihn in den Mund, dieser Pilz ist das Fleisch der Götter. Außerdem bist du Arzt, du rettest die Götter.«
Álvaro schluckt den Pilz wie ein Abführmittel. Leonora lacht, faltet ihr Schultertuch zum Kopfkissen und lädt ihn ein, sich am Fuß des Baumes neben sie auf die Erde zu legen.
»Lass uns hier schlafen.«
»Nein, ich würde lieber ins Dorf zurückgehen, hier ist es gefährlich. Du setzt dein Leben aufs Spiel und merkst es nicht mal.«
»Gefährlich, Álvaro, ist nur, nicht zu tun, was man tun will. Leg dich hin, der Boden ist ganz weich.«
Er hat sich neben ihr ausgestreckt, erschöpft, die Sinne hellwach vom anstrengenden Marsch, ihm ist schwindelig. Mit vereinten Kräften bemühen sich Grillen und Frösche, ihn in den Schlaf zu singen.
»Hier zu sterben wäre gar nicht so unangenehm. Falls ich sterbe, soll es mir recht sein.«
Als er aufwacht, sieht er Leonora mit weit geöffneten Augen neben ihm liegen und weinen. Wie lange hat er geschlafen? In der tiefschwarzen Nacht funkeln noch die Sterne. Er will sie fragen, warum sie weint, aber kein einziger Laut kommt über seine Lippen. Er sieht ihr schwarzes Haar auf dem Boden, ihr Gesicht von der Seite, die Tränen, die ihr über die Wangen laufen, und zum ersten Mal hat er das Gefühl, dass sein Leben bis zu diesem Augenblick ohne Sinn war. Diese Frau ist zweifellos zu groß für ihn. Wann wird er je seine Gefühle so zeigen können wie sie? Niemals. Hat er je eine Frau getroffen, die zerbrechlicher war und doch so sehr ihr eigener Herr? Ihre Impulse, die ihn anfangs aus dem Gleichgewicht gebracht haben, eröffnen ihm einen Zugang zu Bereichen seiner selbst, die er nicht kannte. Im Morgengrauen, nach endloser Zeit, vermag er sich endlich zu rühren und sie zu umarmen. Jetzt empfindet er noch größere Zärtlichkeit für sie. »Leonora«, flüstert er, »meine kleine Leonora.« Sie verbirgt ihren Kopf an seinem Hals, und er zupft Laub und Erde aus ihrem Haar, streicht ihr den Rock glatt und führt sie zurück zum Hotel. »Komm, wir nehmen ein Bad.«
Die morgendliche Quesadilla, die ein weißhaariger Mann ihnen anbietet, schmeckt wundervoll, das Wasser des Bachs ist ein flüssiger Diamant. Die Dorfbewohner erkennen sie wieder, sie haben sie schon einmal hier gesehen: »Ach, die kleine Ausländerin, die Deutsche, die Italienerin, die Gringa, die Französin!« Aus all diesen Ländern stammt sie.
Um zwölf Uhr mittags brennt die Sonne vom Himmel, und Álvaro fragt, die rechte Hand als Blende vor den Augen:
»Warum bleiben wir nicht für immer hier?«
»Nein«, antwortet Leonora entschlossen. »Wir fahren zurück.«
»Mit wem bist du schon einmal hier gewesen? Alle scheinen dich zu kennen.«
»Mit meinem Mann.«
»Gehen wir.« Er hakt sie unter und verstummt.
Díaz Ordaz, komm auf den Balkon!
Ihrer alchemistischen Mutter nacheifernd, entschließen Gabriel und Pablo sich zum Studium der Medizin und des Mysteriums von Leben und Tod. Gaby verlässt die medizinische Fakultät indes sehr bald und wendet sich der Anthropologie zu, danach studiert er Englische Literatur und schließlich Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie.
»Ich will schreiben, Ma’, weil Schreiben eine Flucht aus dem alltäglichen Leben ist.«
»Malen auch. Für da Vinci war die Malerei stumme Poesie und die Poesie blinde Malerei.«
»Man schreibt immer für jemand anders, oder? Für wen malst du, Ma’?«
»Eigentlich für meinen Vater. Ich hätte nie gedacht, dass sein Tod mir wehtun würde, und heute wird mir sogar bewusst, dass ich immer am Beginn eines Bildes an ihn gedacht habe. Aber ich male auch für dich und für Pablo und für Kati, für Chiki, für Remedios. Besonders für Edward habe ich oft gemalt und vermisse ihn mehr als jeden sonst.«
»Erfinde ihn doch, so wie du deine Welt erfindest.«
»Ich glaube eher, diese Welt hat mich erfunden.«
Gaby steht in aller Herrgottsfrühe auf, weil ihm ein Gedicht eingefallen ist. Das Licht im Zimmer seines Sohnes weckt Chiki auf.
»Morgen an der Uni kriegst du nichts auf die Reihe.«
»Die Poesie ist eine Tyrannin, wenn man ein Gedicht nicht gleich aufschreibt, verflüchtigt es sich.«
»Schlaf endlich.«
»Ich will nicht.«
An der Universität verschmilzt Jungsein mit Rebellion, die
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