Frau des Windes - Roman
Studenten haben keine Rezepte für die Zukunft, weil sie nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Das Land verweigert sie ihnen. Am meisten ärgern sie sich über die Herrschenden, die ihnen sagen wollen, wie Mexiko ist und wie sie sich zu verhalten haben. »Ich ziehe mich an, wie es mir passt«, »Ich mache meinen Abschluss nicht, ich studiere Philosophie«, »Ich heirate nicht, und Kinder will ich auch keine«, »Ich bin für die Abtreibung«, »Ich scheiße auf den Präsidenten der Republik.« Die Frauen sind mutiger geworden. Interessiert sich ein Mädchen für einen Jungen, hält es damit nicht hinterm Berg. Gaby hat es erlebt und war sprachlos, wie ungezwungen die Rothaarige sich an ihn herangemacht hat.
Trotzkisten, Marxisten-Leninisten, Anarchisten und KP -Mitglieder bekämpfen einander. Der Studentenführer Roberto Escudero fordert den Präsidenten auf, sich auf dem Zócalo den Massen zu stellen. Seine Forderungen: Beamte sollen ihr Vermögen offenlegen, alle geplanten Maßnahmen mit der Bevölkerung abgesprochen werden, im Finanzwesen und vor allem bei den Wahlen soll Transparenz herrschen, jedes Kind soll eine Chance auf Schulbildung bekommen und jeder junge Mensch nach abgeschlossener Ausbildung eine Arbeit. »Großmaul, komm auf den Balkon! Schwätzer, komm auf den Balkon!«, rufen die Studenten. Die größte Anziehungskraft strahlt der Studentenführer Luis Tomás Cervantes Cabeza de Vaca aus. Stark, besonnen, geradlinig, will er, dass das Land der Jugend gehört statt den Politikern. ›Wir sind alle eins, alles gehört allen‹, lauten die Slogans, ›Die Unterdrücker sitzen in der Regierung‹, ›Die Wahrheit haben wir‹, ›Bücher ja, Bajonette nein‹, ›Das sind die Agitatoren: Unwissenheit, Hunger und Elend‹, ›Wir wollen keine Olympiade, wir wollen Revolution‹, ›Zócalo, Zócalo, Zócalo‹.
»Ich verlange kein Gewehr, ich verlange das Wort«, ruft José Revueltas und schwenkt seine Feder. »Das ist mein Gewehr.«
Die Studenten folgen ihm über den großen Platz vor dem Rektorat. Er scherzt, empfiehlt Lektüren, Rilke, César Vallejo, Baudelaire, schwärmt von Dostojewski und Thomas Mann. »Hast du kein Geld für Bücher, Bruder? Ich leih dir meins.« Er wirkt wie ein griechischer Philosoph mit seinen Schülern. Die Polizei sucht ihn, er lebt von der Hand in den Mund, schläft mal hier, mal dort, legt sich beim Schriftstellerverband in der Calle Filomena Mata auf den Boden. An der Universidad Nacional Autónoma de México wird der Hörsaal ›Justo Sierra‹ in ›Ché Guevara‹ umgetauft. Die Studenten nehmen ihn in Beschlag und schlafen auf der Bühne und auf den Fluren, zeichnen unzählige Zapatas und Villas an die Wände, waschen sich auf der Toilette, lassen Zahnbürsten und Zahnpasta auf dem Waschbeckenrand liegen, und niemand klaut sie.
Über dem Stadtzentrum kreisen Hubschrauber.
Eine Studentenaktion par excellence ist das Kapern von LKW s. Der Fahrer erschrickt, fleht, den Tränen nahe, man möge ihn verschonen, schaut sich um nach dem Anführer, es gibt immer einen, der Stärkste von allen, der Rädelsführer.
»Lasst bloß den Wagen heil, der gehört mir nicht, wenn ihr was kaputt macht, bittet der Chef mich zur Kasse, und wovon soll ich das bezahlen, verdammt, wovon?«
Manche finden es unfair, der arme Kerl, sagen sie, andere spucken große Töne wie im Fußballstadion, wenn die heimischen Pumas spielen.
»Mensch, mach dir nicht in die Hose, wir tun dir schon nichts, fahr uns zum Zócalo, aber dalli.«
Drei Häuserblocks weiter hält eine Polizeistreife sie an, die Aktivisten pfeifen und trampeln.
»Überfahr sie mit dem LKW «, befiehlt der Anführer, schiebt sodann den Fahrer vom Sitz und gibt Gas.
In den Straßen im Stadtzentrum haben die Geschäftsleute Angst vor den Studenten. Sobald zwei junge Leute vor einem Schaufenster stehen bleiben, verscheucht der Ladeninhaber sie: »Haut ab, ihr faules Pack!« Andere lassen kurzerhand das Eisengitter herunter. Einen Studentenausweis zu haben ist gefährlich.
»Zur Not essen wir ihn auf«, sagt Cabeza de Vaca, der imInstitut für Agrarwissenschaft besonders viele Anhänger hat.
Zur Sonntagsmesse geht niemand, mittlerweile werden Gaby und Pablo auch nicht mehr gefragt, ob sie Juden oder Katholiken seien. Im Gegenteil, die Jugend hasst die Religion. Am radikalsten sind die Politologie-Studenten, sie helfen beim Aufbau einer von Armen besetzten Siedlung auf einem einstigen Lavafeld. Statt die Landbesetzer zu
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