Frau des Windes - Roman
Filmemachern, die sich an einer Versammlung in der Geisteswissenschaftlichen Fakultät beteiligt haben, vor, die Studenten aufgehetzt zu haben. Dabei klagt sie auch Leonora Carrington an. Ein anonymer Anruf versetzt diese in Angst. »Ihr steht auf der schwarzen Liste«, sagt eine unbekannte Stimme.
»Pass gut auf deine Söhne auf, Leonora«, warnt Renato.
Am 12. Oktober veröffentlicht die Zeitschrift ¡Siempre! einen Artikel von José Alvarado. ›Schönheit und Licht lag in den Seelen der toten jungen Leute‹, schreibt er. ›Sie wollten Mexiko zu einem Hort der Gerechtigkeit und Wahrheit machen: Freiheit, Brot und Alphabet für die Unterdrückten und Vergessenen. Ein Land ohne Elend und ohne Betrug. Jetzt sind sie erloschene Physiologien in geschändeten Körpern. Eines Tages wird in ihrem Gedenken eine Votivlampe brennen.‹
Die Nachrichten erinnern Leonora an das Jahr 1940 und ihre Flucht aus Frankreich. Eltern suchen nach ihren Kindern. »Sie sitzen im Militärlager Nummer eins in Einzelhaft«, »Man hat sie gefoltert«, »Die Armee lässt niemanden zu ihnen«, »In Tlatelolco hat man sie gezwungen, sich auszuziehen, und halb nackt im Regen stehen lassen«, »Sie werden behandelt wie Mörder«, »Wie durch ein Wunder ist Herberto Castillo im Pedregal zwischen den Felsen entkommen«. Immer wieder taucht das Wort Gefängnis auf. Diesmal sind es nicht die Deutschen, die Frankreich besetzen und Leonora bedrohen, diesmal verfolgen die Mexikaner sie und werden ihre Söhne massakrieren.
»Lass uns schleunigst von hier verschwinden, Chiki.«
»Du weißt doch, dass ich keinen Pass habe.«
Zwischen Mexiko und New York
Ende des Jahres 1968 fliegen Leonora und ihre Söhne zu Larry Bernstein nach New Orleans. Ein paar Wochen später schreibt Chiki ihnen, sie könnten nach Mexiko zurückkommen, die Gefahr sei vorüber, an der UNAM herrsche wieder normaler Universitätsbetrieb.
Gaby und Pablo finden einen leeren Campus vor. Auch die Rückkehr an ihre Fakultäten ist niederschmetternd. Die Kommilitonen sind deprimiert, die Studentenführer sitzen in Haft, und deren Angehörige stehen Schlange vor den Toren des ›schwarzen Palastes‹, wie das Gefängnis Palacio de Lecumberri im Volksmund heißt.
Leonora zuckt jedes Mal zusammen, wenn das Telefon klingelt, und kann sich nicht aufs Malen konzentrieren. Inés Amor macht Druck, da noch Bilder für ihre Einzelausstellung in der Galería de Arte Mexicano fehlen, die in der Kunstsaison 69 eröffnet werden soll.
»Wie willst du deine Söhne versorgen? Nutz das Malen doch, um dich abzureagieren.«
»Als ich einen Kannibalen vor rotem Hintergrund und mit Gabeln an Händen und Füßen gemalt habe, musste ich an den Präsidenten der Republik denken.«
»Ich sorge dafür, dass er ausgestellt wird.«
»Ich habe Angst.«
Leonora hat so stark abgenommen, dass ihre Rippen sich abzeichnen und ihre Schulterblätter und Wangenknochen hervortreten.
»Iss, Leonora, iss«, fleht der verzweifelte Chiki sie an, »du ernährst dich ja nur noch von Tee und Zigaretten.« Und Gaby befiehlt er, sich die Haare abzuschneiden.
Nicht aus Überzeugung, sondern weil er die Angst in der Stimme seines Vaters gespürt hat, kommt Gaby tags darauf mit einem militärischen Haarschnitt nach Hause, der seinen Blick noch eindringlicher macht.
Pablo erhält aus New York die Zulassung zum Studium der Pathologie.
»Ich werde mich auf Schmerzforschung spezialisieren. Ich bin überzeugt davon, dass es nicht genügt, nur den Körper zu behandeln«, versichert Pablo, auch er Jung-Anhänger.
»Ohne meine Söhne kann ich nicht leben, Chiki, ich werde ihnen folgen.«
»Mach dir nichts draus«, sagt Kati zu Chiki, der sie mehrmals die Woche besucht, »Leonora ist nun mal so, sie kommt bald wieder.«
Auch von Álvaro verabschiedet sich Leonora.
»Was soll ich mit dem Porträt machen, das du von mir gemalt hast?«, fragt er.
»Verbrenn es.«
»Und was wird aus deiner Staffelei und deinen Leinwänden, wenn du nicht mehr in die Wohnung kommst?«
»Wenn du willst, holen wir sie am Donnerstag ab«, erwidert Leonora etwas milder.
Álvaro versucht, sie zu beruhigen.
»Deinen Söhnen wird schon nichts passieren, das hier ist kein Krieg wie der, den du erlebt hast.«
»Doch, es ist ein Krieg, mit vielen Toten. Ich verschwinde.«
In New York entdeckt sie eine Wohnung gegenüber vom Gramercy Park, einem quadratischen Park mit Gitterzaun, für den man einen Schlüssel braucht. Sie nimmt die Wohnung wegen deren
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