Frau des Windes - Roman
Nähe zu einer Buchhandlung, die dem C. G. Jung Center angeschlossen ist. In den Regalen steht nicht nur Jungs Gesamtwerk, sondern auch eine außergewöhnliche Sammlung von Texten über Psychologie und Esoterik. Fast täglich sucht Leonora sie auf. Außerdem adoptiert sie den von den Vormietern zurückgelassenen HundBaskerville.
Ihre Wohnung liegt im Keller und ist dunkel. Nach einer Woche bietet der Besitzer der Buchhandlung, von Leonoras Neugier beeindruckt, ihr einen Lesesessel im hinteren Teil seines Ladens an.
»Wie ich sehe, ist einer Ihrer Wesenszüge der Wunsch, zu lernen. Auch mich fasziniert Jung.«
»Er interessiert mich mehr als Freud«, erwidert Leonora.
»Analysieren Sie Ihre eigenen Träume?«
»Ja, ich versuche, mich an sie zu erinnern. Aber ich habe nie einen Traum gemalt, alles auf meinen Bildern ist real.«
»Sie sind Malerin?«
Mit ihrem Regenmantel, der wie schon vor Jahren bei ihrer Ankunft in Portugal hinter ihr her flattert, wandert Leonora durch die Straßen, ohne müde zu werden. Sorgen macht ihr das knappe Geld. Wenn die Brewster Gallery ihre Bilder nicht verkauft, kann sie ihre Miete nicht bezahlen. Ihre Söhne erhalten ein Stipendium, und Chiki lebt von dem, was er durch seine Arbeit verdient.
Die Entfernung von ihm ist eine Erholung.
Leonora läuft und läuft, ohne über die zurückgelegte Strecke nachzudenken. Laufen ist ihre Rettung, den Asphalt unter sich vorbeiziehen zu sehen ist, wie dem Wasser zuzuschauen. ›Ich bin ein Korsar, ich bin allmächtig! Solange ich einen Fuß vor den anderen setzen kann, wird mir nichts Schlimmes passieren.‹
»Bist du zu Fuß gekommen?«, fragt ihre Freundin Natalia Zaharías. »Weißt du eigentlich, wie viele Kilometer du gelaufen bist?«
Leonora lächelt. »Noch kann ich es.«
Viele der entgegenkommenden Passanten gehen genauso zügig wie sie. Und immer wieder freundliche Gesichter.
Ihre Hoffnung richtet sich jetzt auf die Surrealisten-Ausstellung in der New Yorker Byron Gallery. In der dunklen Kellerwohnung arbeiten zu müssen deprimiert sie. Mag ihr Atelier in Mexiko auch noch so klein sein, dort dringt wenigstens Sonne ein.
Man fragt sie nach den magischen Kräften der surrealistischen Bewegung, und sie antwortet, inzwischen glaube sie, dass es die Pflicht eines Künstlers sei, zu wissen, was er tut, selbst wenn er der Venus oder ihrer Zwillingsschwester Medusa eine Hose anziehen müsse.
1970 stirbt Maurie. ›Jetzt bin ich wirklich ein Waisenkind, ohne Vater, ohne Mutter, ohne Kindermädchen.‹ Mauries gepudertes Gesicht – ›zu viel Rouge, Mama, zu viel Rouge‹– begleitet sie Tag und Nacht. ›Niemand wird mich je wieder so lieben wie sie. Ihre Hingabe und Loyalität waren bedingungslos; wenn jemand mir beigestanden hat, dann meine Mutter.‹ Gewissensbisse quälen sie, als sie zur Beerdigung in ihre alte Heimat reist: ›Warum habe ich sie nicht öfter besucht? Warum war ich in der Stunde ihres Todes nicht bei ihr? Sie ist allein gestorben.‹ Nach der Trauerfeier verlässt sie Hazelwood mit seinem leeren, trostlosen Park und reist nach Irland, auf die Isle of Man und nach Schottland. Dort besichtigt sie die stehenden Steine von Stenness auf Orkney und trinkt Scotch auf das Wohl ihrer Mutter. Ein tibetanischer Lama tröstet sie in ihrer Trauer:
»Das Leben ist ein Fluss«, sagt er. »Es fließt, an nichts darf man sich klammern, alles muss dem Strom folgen. Sich festzuhalten an Personen oder Dingen hat keinen Sinn.«
»Was soll ich denn tun?«
»Gehen Sie in sich, meditieren Sie morgens, gleich nach dem Aufstehen, wiederholen Sie das Mantra Nam myoho renge kyo , das wird Sie beruhigen. Denken Sie an gar nichts. Vielleicht taucht dabei sogar der Traum auf, den Sie nicht zu träumen wagen.«
Leonora folgt seinem Rat. Doch Gabys und Pablos Stimmen bedrängen sie, und die Ängste lassen nicht nach. Ihre Söhne führen jetzt ihr eigenes Leben, gleichwohl gelingt es ihr nicht, sich von ihnen zu lösen. Sie zu sehen und zu hören ist für sie wie die tägliche Nahrung.
Nicht nur Mauries Tod macht ihr zu schaffen, auch die Einsamkeit und die verrinnende Zeit. Abermals sucht sie Rat bei dem tibetanischen Lama. Auf einem gemeinsamen Spaziergang erzählt er ihr die Geschichte von einem kleinen Vogel, der mit von sich gestreckten Füßchen auf dem Rücken lag und von einem anderen Vogel gefragt wurde, warum er so daliege. Der kleine Vogel antwortete: »Ich halte den Himmel mit meinen Füßen und darf mich nicht bewegen, sonst
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