Frau des Windes - Roman
ein Reptil«, sagt Leonora.
Es ist das einzige Lebewesen, dem sie begegnen. Durch einen Mauerspalt erkennen sie einen kleinen Garten, nur eine Mauer trennt sie vom Abgrund, in dem etliche Meter tiefer der Fluss dahinfließt.
Oben auf dem Berg ragt ein Schloss mit drei Spitztürmen in den Himmel. Der Schlossherr lebt dort mit Mademoiselle la Vicomtesse Drusille, seiner exzentrischen Tochter, die stets nackt auf ihrem Pferd reitet.
»Wir könnten uns als Bischöfe verkleiden und auf dem Felsen feierliche Schwarze Messen lesen.«
Verzückt schließt Leonora die Augen und sieht sich in einem violetten Messgewand neben ihrem Geliebten stehen, eine Mitra auf dem Kopf und einen Bischofsstab in der Hand, mit dem sich der Teufel austreiben ließe.
Der Galopp eines Pferdes weckt sie aus ihren bischöflichen Träumereien. Eine nur mit einem kurzen Jackett bekleidete Amazone steigt vom Pferd und küsst Max.
»Guten Abend, mein entzückender kleiner Liebling«, sagt sie zu Max.
Dass eine Frau, die fast so kräftig wirkt wie ein Mann, mit so süßlicher, gekünstelter Stimme spricht, verblüfft Leonora.
»Mein armer Kleiner, du bist müde. Willst du im Schloss zu Abend essen?«
»Heute nicht, morgen.«
Drusille küsst Max auf die Nase und gibt ihrem Pferd die Sporen.
»Die kannst du mitbringen, wenn du willst.« Sie zeigt auf die englische Bischöfin und segnet sie zum Abschied.
»Bist du aus deinem klerikalen Traum erwacht?«
»Ja, die Bewohnerin von Laputa hat mich geweckt.«
Leonora schaut zu, wie Max kleine, stachelige Pflanzen pflückt, die einen süßen, betörenden Duft verströmen.
»Was hast du mit diesen Blumen vor?«
»Eine Legende besagt«, erklärt er, während er ein Büschel Pflänzchen zusammenbindet, »dass ein außerordentlich hässliches Mädchen namens Miralda ihr Haus stets verschleiert verließ, damit man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ein Zauberer aber verliebte sich in den Duft ihres Haares, und eines Nachts vereinigte er sich mit ihr. Als er am anderen Morgen ihr Gesicht sah, war er so entsetzt, dass er sie in der Erde vergrub und nur ihr Haar hervorschauen ließ. Das sind diese Blumen: Miraldalocks.«
Leonora atmet das Aroma tief ein und wirft den Kopf zurück.
»Was für ein schwerer Duft!«
»Mal sehen, ich glaube, wir haben genug. Jetzt brauchen wir einen flachen und einen runden Stein. Wir müssen uns beeilen, damit wir fertig sind, bevor es dunkel wird.«
Leonora schnuppert an ihren Fingern, die nach den Miraldalocks riechen. Max bittet sie, in der Nähe des Zeltes eine Kerze anzuzünden, dann hockt er sich hin und zerreibt die Blumen auf einem flachen Stein.
Nachdem er sie alle zerstoßen hat, erhitzt er sie. Ein köstlicher Duft steigt auf.
»Siehst du?«, erklärt er Leonora, »mit diesen Kräutern kann man Zigaretten drehen, die besser schmecken und billiger sind als Gauloises. Was wir jetzt noch brauchen, ist Reispapier. Wir gehen welches kaufen, das Feuer lassen wir an, dann ist alles fertig, wenn wir zurück sind.«
Als Alphonsine sie über den Dorfplatz kommen sieht, ruft sie ihnen zu:
»Ich habe Sie jetzt schon seit drei Tagen nicht mehr gesehen, essen Sie doch bei mir zu Abend.«
Dann beschwert sie sich bei Leonora:
»Warum verlassen Sie mich? Kaufen Sie ein paar Auberginen, die bereite ich Ihnen mit Tomatensoße zu. Marie pflückt sie ganz frisch in ihrem Garten.«
Marie sucht ein paar von den dunkelvioletten Kugeln aus und reicht sie Leonora.
»Und wie viele Tomaten wollen Sie?« Im Dunkeln sucht sie weiter. »Ich habe auch schöne Salatköpfe.«
Leonora und Max setzen sich auf die Terrasse. Außer ihnen sitzen dort noch ein Leichenbestatter und der alte Matthieu, der zum Mobiliar gehört und sich eine Zigarette nach der anderen dreht. Wenig später stellt Fonfon einen Teller mit Auberginen in roter Soße vor sie hin.
»Wenn du willst, dass der Leichenbestatter Maß nimmt für deinen Sarg, ist das jetzt eine gute Gelegenheit, Leonora.«
Der Leichenbestatter erhebt sich von seinem Stuhl und kommt herüber. Die Wirtin, die neben dem Maler sitzt, säubert sich mit einem Zahnstocher die Zähne. Genüsslich lästert Alphonsine über die Nachbarn, lauter Säufer, Faulpelze, Schnorrer.
»Vielleicht sind sie arm«, sagt Max zu ihrer Verteidigung. »Ich glaube jedenfalls nicht an die Arbeit.«
»Wo kauft Matthieu eigentlich das Papier, mit dem er seine Zigaretten dreht?«, fragt Leonora.
Der Alte brummt etwas Unverständliches.
»Im Tabakladen«, übersetzt
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