Frau des Windes - Roman
Fonfon.
Leonora und Max verabschieden sich.
»Morgen bringt Matthieu Ihnen ein paar Feigen und ein fettes Kaninchen vorbei. Ich lasse es mit Rosmarin im eigenen Saft schmoren, so schmeckt es immer köstlich.«
Nachdem sie zwei Päckchen Reispapier gekauft haben, kehren sie, vom Mondlicht geleitet, zu ihrem Zelt zurück. Ruhig fließt das Wasser der Ardèche am Weg entlang. Vor dem Zelt glüht immer noch die Kohle unter dem Töpfchen, und es riecht sehr gut. Als Max es zum Abkühlen in den Fluss stellt, steigt eine Rauchwolke auf.
»Jetzt sind sie trocken, genau richtig.«
Aus den Kräutern dreht er Zigaretten.
»Du wirst sehen, sie schmecken köstlich«, sagt er und zündet sich eine an.
»Von wem hast du das gelernt?«
»Du ahnst nicht, was ich alles kann. Mit dieser Dosis werden all meine Sorgen verschwinden.«
»Könnte deine Frau etwa auch hierher kommen?«
»Du kennst Marie Berthe nicht.«
Seine Ehefrau ist in der Obhut eines Jungen geblieben, der kaum lesen und schreiben kann.
»Glaubst du, er ruft mich an, falls irgendwas passiert?«, fragt Max Leonora.
»Keine Ahnung«, antwortet sie aus großer Ferne, denn ihre eigene Stimme klingt, als schwebe sie mehrere Meter über ihrem Kopf. »Ich glaube auch nicht, dass das besonders wichtig ist.«
»Doch, es ist wichtig«, erwidert Max. »Das Dorf ist so klein, dass sie uns, falls sie kommt, sofort finden könnte.«
»Das ist egal, alles ist egal«, erwidert Leonora.
Der Briefträger Cheval
Viel mehr, als spazieren zu gehen oder die felsigen Berge zu erklimmen, gibt es nicht zu tun. Max versteht etwas von Astronomie, Leonora vom Mond, der an- und abschwillt wie der Bauch der Frauen und ihren Zyklus regelt. Durch Pater O’Connor, ihren Astronomielehrer, kennt sie die Sternbilder, die sie jetzt Max zeigt. Sie zeigt ihm auch die grünen, blauen und grauen Grillen, und als ein Aasgeier im Sturzflug herabstößt, stellt sie traurig fest:
»Irgendwo in der Landschaft muss ein totes Tier liegen.«
Max erklärt ihr, dass manche Pilze eine eiweißartige Substanz hätten, und da Leonora Eier mag, isst sie die Pilze. Er scheint eine riesige Last mit sich herumzutragen, schweigt oft, und wenn er spricht, offenbart er Leonora die magischen, verschlungenen Wege der Natur.
Mitunter begegnen sie auf ihren Spaziergängen einem Briefträger mit weißem Schnäuzer. Um seine Stelle antreten zu können musste er wie jeder seiner Kollegen einen Schwur leisten, versprechen, dass seine Post ihren Empfänger unversehrt erreichen wird. Alle Briefträger tragen hier eine militärische Uniform – ihr Beruf ist eine heilige Mission. Diejenigen, die kein Fahrrad haben, legen bisweilen große Entfernungen über unbefestigte Wege, zwischen Bäumen und Sträuchern, zurück. Sie werden von der Sonne verbrannt, vom Regen durchnässt oder stapfen frierend durch Schnee und Eis. Der Briefträger von Saint-Martin d’Ardèche hat einen stechenden Blick unter seiner marineblauen Mütze und erinnert Max plötzlich an den ›Facteur Cheval‹. Unversehens wandelt sich sein Gesichtsausdruck.
»Lass uns mit dem Zug nach Hauterives fahren«, schlägt er Leonora vor. »Erinnerst du dich an das Gedicht vom Briefträger, das Breton dir einmal vorgelesen hat? Wir sind hier in der Nähe des Palais Idéal von Ferdinand Cheval. Wie lang eine Reise dauert und wie sie verläuft, ist egal, Hauptsache man kommt ans Ziel. Du musst ihn kennenlernen.«
»Ist er ein Pferd?«, fragt Leonora und klatscht in die Hände.
Eines Tages stolperte Ferdinand Cheval auf seinem Rundgang über einen Stein und fiel hin. Nie zuvor hatte er einen solchen Stein gesehen, er suchte nach ähnlichen und begann sie zu sammeln. Zunächst verwahrte er die Steine in seiner Tasche, dann in einer Tonne, bis er sie eines Tages mit einer Schubkarre an die Stelle transportierte, wo er sich sein Schloss bauen wollte. ›Seinem Namen hat er alle Ehre gemacht‹, denkt Leonora. ›Er hat geschuftet wie ein Pferd.‹
Dreiunddreißig Jahre lang formte er aus den Steinen, aus Mörtel und Zement Insekten, Federn, Palmen, Türme, Zugbrücken, Tiere, Wasserfälle, Seesterne, Engel, Hörner, Rosen … und errichtete seinen Palais Idéal, eine Mischung aus Schweizer Bergchalet, hinduistischem Tempel und Moschee mit Nischen und Minaretten.
An der Schubkarre entdeckt Leonora ein Schild, auf dem Cheval sein Hilfsgerät würdigt: ›Jetzt, da sein Werk vollendet ist, / erfreut er sich in Ruhe der getanen Arbeit, / und ich, seine bescheidene
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