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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Wein dazu. Die Bauern erzählen ihnen, dass die Rhone manchmal über die Ufer tritt und das Dorf überschwemmt. »Dieses Jahr war ein gutes Kirschenjahr, wir haben auch eingemachtes Obst, das wird Ihnen schmecken, und jede Menge eingelegte Oliven. Sie müssen sich unbedingt Pont-Saint-Esprit anschauen.« Die Dorfbewohner sind gastfreundlich, das Paar ist etwas Neues, sie schauen den beiden nach, wie sie eng umschlungen durch die Straßen laufen und sich an den Häuserecken küssen.
    Schon nach kurzer Zeit weiß Alphonsine, die jeder hier nur Fonfon nennt, alles über die Verliebten, nimmt Anteil an ihrem Geschick und bedenkt die Gefahren, die ihnen drohen könnten. Die Anwesenheit der Engländerin und ihres Geliebten in Saint-Martin ist für sie der beste Roman, den sie je gelesen hat.
    »Als Sie gestern Abend ausgegangen sind, hat eine Frau aus Paris angerufen und gesagt, sie sei hierher unterwegs.«
    »Das ist sie. Lass uns nach Carcassonne fahren, zu Joë Bousquet. Frankreich ist groß genug, um sich zu verstecken.«
    Während des Ersten Weltkrieges wurde Joë Bousquet einundzwanzigjährig an der Front bei Vailly von einer Kugel in die Wirbelsäule getroffen. Jetzt lebt er hinter geschlossenen Fenstern. Die Kugel in seinem Rückenmark hat ihn auf immer ans Bett und ans Opium gefesselt. Er sagt, die Verwundung habe ihn gelehrt, dass alle Menschen verwundet sind.
    Er dreht kleine Opiumkugeln. Max und Leonora folgen seinen Anweisungen und rauchen mit ihm. Joë Bousquet liegt in seinen Kissen, im Halbdunkel des Schlafzimmers, in das kein einziger Sonnenstrahl fällt. Er spricht sehr langsam. Als Leonora ihn fragt, ob sein Schicksal ihn nicht wütend mache, antwortet er ihr, schon vor dem Unglück auf dem Schlachtfeld sei er ein verlorener Mensch gewesen.
    »Warum?«
    »Weil ich süchtig war.«
    Irgendwann hätte er sich wohl eine Kugel in den Kopf gejagt.
    »Ich bin ein von allen Winden getriebener Mann, der zum Gefangenen von Einsamkeit und Stille geworden ist.«
    Leonora erfährt, dass Max die ›Windsbraut‹, wie er sie nennt, von Joë Bousquet übernommen hat.
    Die Windsbraut ist eine wurzellose, von der Luft gepeitschte, von jedermann zertretene oder zerknickte Pflanze. Die Leute nennen sie spöttisch ›Windsbraut‹, doch genießt die Pflanze das Privileg, noch in den schlimmsten Wirbelstürmen zu blühen.
    »Seitdem ein Freund mir alle zwei Wochen Haschisch aus Marseille mitbringt, fühle ich mich gut, denn die Wirkung ist sanft und lange spürbar.«
    Bousquet atmet den Rauch tief ein, hält die Luft an und lässt einen schmalen Rauchfaden durch seine fast geschlossenen Lippen strömen.
    Leonora findet, er sieht sehr blass aus. Sein Kopf ist kahl, sein altersloses Gesicht zittert elfenbeinfarben. Unter beiden Armen breiten sich große Schweißflecken aus.
    »Frierst du? Ist alles in Ordnung?«, fragt sie.
    »Ich bin sehr müde, ich habe Magenschmerzen.« Kalter Schweiß läuft ihm über die Stirn, und die Brille rutscht ihm von der Nase.
    Leonora tupft ihm die Stirn trocken. Da sie zum ersten Mal Opium raucht, wirkt die Droge bei ihr nicht so stark wie bei Max. In Opiumqualm gehüllt, zieht dieser sich zurück und scheint alles um sich herum zu vergessen.
    Die Zeit steht still. Das Licht ist grün wie das eines Aquariums.
    »Du siehst aus wie ein Page«, sagt Joë zu Leonora. »Carcassonne ist die Stadt der Troubadoure und der Katharer. Bleib doch für immer hier.«
    Leonora wird unruhig.
    »Du bist außer Gefahr, hier gibt es keine Uhr, keine einzige weit und breit. Niemand achtet mehr auf Datum und Wochentag. Beruhige dich, schließ die Augen.«
    Im Opiumrausch sinkt Joë Bousquet in die Tiefen eines Traums, in dem er irreale Frauen liebt. Eine Frau zu lieben, verrät er Leonora, bedeute für ihn, auch körperlich zu dieser Frau zu werden:
    »Ich habe gelebt wie eine Frau, wollte gebären und das Geborene mit meiner Substanz nähren.«
    Das Projektil in seinem Körper wandert weiter, der Schmerz höhlt ihn aus, Opium ist das Einzige, was ihm gegen seine urämischen Krisen hilft; seine Nieren arbeiten nicht mehr richtig.
    »Pflegt dich denn niemand? Was isst du?«
    »Die Leute sind so dumm, dass ich lieber allein bin. Ich esse viel eingemachtes Obst. Willst du eine kandierte Frucht? Davon gibt es hier reichlich. Am besten schmecken die Pflaumen.«
    »Auch die Rote Königin hat ihren Pferden Marmelade gegeben.«
    »Aha?«, fragt Bousquet interessiert.
    »Sie hat mir eine Einladung geschickt, in Goldbuchstaben

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