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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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sind mit ihrer Geduld am Ende und flehen Leonora an, zu schweigen und ihnen nicht länger auf die Nerven zu gehen.
    Auf dem Rücksitz reist eine durchsichtige Frau mit wirrem Haar, die über magische Fähigkeiten verfügt, die die Welt ordnet, den Verkehr lenkt, den Wagen nach Belieben anzuhalten vermag, eine Frau, die der Sonne aufzugehen befiehlt und die Macht besitzt, den Krieg zu beenden. Sie hasst die Deutschen, kurbelt das Fenster herunter und schreit aus vollem Halse: »Hitler muss vernichtet werden!« Catherine schließt das Fenster wieder. Auch im Dunkel der Nacht sieht man noch etwas, und wenn ein anderes Auto vorbeifährt, brüllt Leonora jedes Mal: »Hitler ist ein Mörder!« Dann lässt sie sich in den Sitz zurückfallen und schließt die Augen. Sie reißt sie wieder auf: Lange Reihen von Särgen säumen die Straße. Das müssen von den Nazis massakrierte Franzosen sein. Durch jede einzelne Pore dringt ihr die Gewalt des Krieges in den Körper. Sie sieht Leichenberge, sieht Arme und Beine aus Militärlastwagen baumeln. Catherine und Michel sehen das alles nicht oder wollen es nicht sehen. Abermals öffnet Leonora das Autofenster und brüllt: »Die Deutschen ermorden Frankreich, alles stinkt nach Tod!« In der Tat befindet sich in Perpignan ein riesiger Soldatenfriedhof.
    »Hier werden wir ein paar Stunden schlafen«, sagt Michel. Doch in der Stadt ist kein einziges Hotelzimmer mehr frei.
    Leonora steigt aus dem Wagen und fragt, wo die Nazis sind. Sie geht zu Kellnern, Schuhputzern, zum Briefträger; denn diese Männer erscheinen ihr mächtig. Sie erschreckt sie mit ihren schwarzen Augen, in denen der Wahnsinn lauert.
    »Die Deutschen haben Frankreich einfach überrannt«, sagt einer von ihnen.
    »Ich habe sie einmarschieren sehen«, bestätigt ein anderer. »Sie saßen auf ihren Motorrädern, und die Sonne spiegelte sich in ihren Brillen. Bordeaux platzt aus allen Nähten.«
    Leonora bleibt nicht unbemerkt, doch es ist gefährlich, in besetztem Gebiet aufzufallen.
    »Steig in den Wagen, Leonora, wir fahren weiter«, befiehlt Catherine.
    Je länger sich die Reise hinzieht, desto stärker schwillt ihre Angst an, sie zittert, schreit plötzlich los, führt Selbstgespräche, ist kaum zu bändigen. Die Fahrt durch die von fliehenden Menschen überfüllten Straßen wird immer schwieriger. Der Motorenlärm ringsum dröhnt ihr in den Ohren.
    »Wissen all diese Leute eigentlich, wo sie hinfahren?«, fragt Leonora.
    »Natürlich nicht!«, schreit Catherine. »Sie sind alle auf der Flucht. Die Deutschen bombardieren Frankreich, kapierst du das nicht?«
    Leonora öffnet das Wagenfenster:
    »Nieder mit den Eindringlingen! Es lebe das freie Frankreich!«
    »Sei still!«, ruft Catherine.
    »Wenn ich den Leuten sage, dass ich dem Krieg mit meiner geistigen Kraft Einhalt gebieten kann«, entgegnet Leonora, »wird er aufhören. Wenn ich ihnen sage, dass ich psychische Macht besitze, werden sie keine Angst mehr haben; viele Leute glauben, mein Blick habe magische Kraft. Ich werde den Nazis entgegentreten, und sie werden begreifen, dass sie verschwinden müssen.«
    »Genug jetzt«, fleht Catherine mit Tränen in den Augen. »Schrei nicht so herum, du verrätst uns noch. Und Michel hat keine Papiere.«
    »Aber ich trage doch Verantwortung für euch, ich rette euch«, protestiert Leonora.
    Wieder behauptet sie lauthals, sie sei Johanna von Orleans.
    »Falls dir daran liegt, dass wir Andorra erreichen, dann halt jetzt den Mund. Wenn du redest, geht alles schief, das meine ich ernst, Leonora. Unser aller Leben steht auf dem Spiel.«
    Leonora beherrscht sich und beißt sich die Lippen blutig.
    Erst als sie in Andorra angekommen sind, einem Land von der Größe eines zwischen Frankreich und Spanien vom Tisch gefallenen Brotkrümels, beschließen Catherine und Michel, Station zu machen.
    Als Leonora aus dem Fiat steigt, kann sie sich nicht mehr aufrichten. Sie hat die Kontrolle über ihren Körper verloren und bewegt sich vorwärts wie eine Krabbe. Im Hotel versucht sie, die Treppe hinaufzusteigen, aber ihre Beine sind vollkommen gefühllos. Catherine wird wütend.
    »Mein Körper gehorcht den Befehlen meines Geistes nicht mehr. Ich muss alles Erlernte daraus löschen und die alten Formeln, die mich in diese lähmende Angst versetzen, unwirksam machen.«
    »Du willst doch nur allen auf die Nerven gehen.«
    Im Hôtel de France händigt ihnen ein junges Zimmermädchen, das offenbar für alles zuständig ist, den Schlüssel zu ihren

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