Frau des Windes - Roman
sie auf die grüne Wiese, auf der die Tiere weiden. Dass sie nicht weglaufen, bestätigt Leonora in ihrer Überzeugung, Macht über die Tiere zu besitzen, sie schnuppert an ihnen, streichelt sie, spricht mit ihnen. Auch sie ist ein Pferd, sie legt ihr Gesicht an ihre Mäuler, kämmt ihnen die Mähnen, reibt ihnen die Tränenflüssigkeit aus den Augenwinkeln und will gerade auf ein falbes Pferd steigen, das auf sie zu warten scheint, als Catherine und Michel durch ihr bloßes Näherkommen die Tiere verscheuchen.
»Seht ihr, was ihr angerichtet habt?«
»Dann lauf doch mit ihnen!«, knurrt Catherine.
»Schluss jetzt mit dem Blödsinn!«, sagt Michel. »Morgen versuchen wir, über die Grenze nach Spanien zu kommen.«
»Ich gehöre mehr zu den Pferden als zu euch«, erwidert Leonora und will Michels Hand abschütteln. Etwas liegt in ihrem Blick, was ihn seine Hand sofort zurückziehen lässt.
Mit den Papieren und dem Geld ausgestattet, das Harold Carrington aus London geschickt und durch den von Imperial Chemical Industries gesandten Jesuiten hat überbringen lassen, steigen Catherine und Leonora wieder in den Fiat. Michel hat keinen Passierschein, wird also erst in Madrid wieder zu ihnen stoßen. Wichtig ist jetzt Leonoras Gesundheit. Der Jesuit nimmt Platz neben Catherine, und zu dritt brechen sie auf nach La Seu d’Urgell.
»Diese Frau bringt mich noch um, ich bin völlig fertig mit den Nerven«, sagt Catherine zu dem Jesuiten, »ich weiß nicht, ob wir mit ihr überhaupt bis nach Anserall kommen.«
»Im Moment scheint sie ruhig.«
»Sie benimmt sich die ganze Zeit über grauenhaft.«
»Dies ist mein Königreich!«, schreit Leonora, als sie spanischen Boden erreicht haben. »Diese rote Erde ist das getrocknete Blut des Bürgerkrieges, hier werde ich Max wiedertreffen.«
»Wenn sie so schreit, nimmt man uns womöglich fest.«
»Oder sie steckt mich an mit ihrem Wahnsinn«, sagt Catherine.
Madrid
Catherine begreift ihre Freundin von Tag zu Tag weniger; sie hätte nicht geglaubt, dass Leonora sie derart in Gefahr bringen würde. 197 Kilometer Wahnsinn liegen hinter ihr, und der Jesuit macht alles noch schlimmer, weil er nicht ein Wort sagt. Leonora schlägt vor, den Fiat stehen zu lassen und mit dem Zug nach Madrid zu fahren. Erleichtert atmet Catherine auf. Wenigstens wird sie jetzt die irren Schreie ihrer Freundin nicht mehr am Steuer ertragen müssen. Der Jesuit verabschiedet sich. In der örtlichen Zweigstelle von Imperial Chemical Industries endet seine Mission.
Leonora gibt jedem Wort eine Bedeutung, die nur sie selbst versteht. Es ist ihr eigener Kode auf der Reise durch eine von Bomben geschundene Landschaft.
Die erste Nacht in Madrid verbringen sie im Hotel Internacional in der Nähe des Bahnhofs. Obwohl das Essen nur im Speisesaal serviert wird, erreicht Leonora es dank ihrer Schönheit und ihres irren Blicks, dass man ihnen das Essen auf die Dachterrasse bringt, wo sie über die Dächer von Madrid schauen können.
Sie siedeln um ins Hotel Roma. Catherine schickt Michel ein Telegramm nach dem anderen, und als er nach sechs Tagen eintrifft, fällt sie ihm um den Hals.
»Ich bin fix und fertig. Sie wird immer unkontrollierbarer. Pass du jetzt bitte auf sie auf.«
Auch im Hotel Roma verlangt Leonora, auf der Dachterrasse essen zu dürfen.
»Sobald die Angst, die sich in mir angesammelt hat, verfliegt«, ruft sie euphorisch, »wird auch Madrid zur Ruhe kommen. Madrid sitzt in meinem Bauch, ich werde es heilen!«
»Madrid ist der Magen der Welt!«, sagt der Portier ihr.
Die Nacht verbringt sie mit heftigem Durchfall auf der Toilette, und am anderen Morgen verkündet sie glücklich, mit der Entschlackung ihrer Eingeweide habe sie Madrid gleich mit befreit. Jetzt werde ihr Magen, gereinigt von all den vielen darin abgelagerten Dreckschichten, die Güte der Menschen offenbaren.
»Der Krieg ist zu Ende«, ruft sie, als sie wieder bei Kräften ist.
Catherine und Michel beschließen, sie in ihrem Zimmer einzusperren.
»Ich muss mit Max’ Pass zum Außenministerium, damit sie mir ein Visum für ihn ausstellen«, drängt Leonora. Als sie merkt, dass die Tür nicht aufgeht, steigt sie durchs Fenster und balanciert unter Lebensgefahr über das Gesims. Schließlich schafft sie es, in die Empfangshalle zu gelangen, wo sie sich einen Weg durch die Menge der Hotelgäste bahnt. Da hält ein großer, blonder Mann sie an und stellt sich vor:
»Ich heiße Van Ghent.«
»Könnten Sie mir ein Visum für Max
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