Frau des Windes - Roman
Zimmern im ersten Stock, am Ende des Flures, aus.
»Hier wohnt zurzeit niemand, Sie sind die Einzigen«, sagt sie auf Katalanisch.
In der leeren Empfangshalle versucht Leonora, aufrecht zu gehen. Michel und Catherine haben genug von ihr und schließen sich in ihrem Zimmer ein. Rette sich, wer kann, haben die beiden beschlossen. Wenn die Engländerin ihrem Leben ein Ende setzen will, ist das ihre Sache. Freilich brauchen sie sie noch, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Endlich erreicht Leonora ihr Zimmer im ersten Stock, öffnet das Fenster sperrangelweit, und eine Reihe hoher Kiefern bewegt sich auf sie zu.
Nach der ersten Nacht teilt Michel, dessen Laune sich wieder gebessert hat, den Frauen mit, er werde zum Telegrafenbüro gehen, um eine Nachricht aufzugeben. Leonora weiß nicht, dass es sich dabei um eine Nachricht an ihren Vater handelt, der aus England Geld geschickt hat. In einigen Tagen soll ein Bote von Carrington in Andorra eintreffen, ein Jesuitenpriester, der ihnen ein Visum nach Spanien besorgen wird. Die Macht von Imperial Chemical Industries ist grenzenlos.
Leonora kann wieder gerade stehen und auf die Straße gehen, doch als sie versucht, den Hang hinter dem Hotel hinaufzusteigen, ist sie erneut blockiert wie Catherines Fiat und krümmt sich zusammen.
»Tu uns das nicht an. Richte dich auf«, bittet Catherine sie und zieht sie hoch.
»Ich kann nicht.«
»Stell dich gerade hin, Mensch!«
»Ich schwöre dir, es geht nicht!«
»Und warum?«
»Weil ich machtlos bin angesichts all des Leides, das ich unterwegs gesehen habe.«
Vor lauter Angst gelingt es ihr nicht, Geist und Körper in Übereinstimmung zu bringen. Kein Gedanke trifft mehr ins Schwarze, Beklemmung lähmt sie, ihre Hände versteifen sich, weder die Finger der rechten noch die der linken Hand kann sie bewegen. Ihr Mund ist verkrampft, sie schämt sich zu sprechen. Sie versucht zu verstehen, warum ihr Körper keine Befehle mehr empfängt. Ihr Wille hat keine Macht mehr. Deshalb versucht sie als Erstes, mit der Natur in Einklang zu kommen, mit diesem bewaldeten Berg, den sie vergeblich hinaufzusteigen versucht.
»Hilf mir, Berg! Weise mich nicht zurück, lass mich gehen! Wenn ich gehe, bin ich gerettet!«
Sie versucht, ein paar Schritte zu tun, und fällt hin.
»Ich bin vollkommen leer, mir bleibt nur das Bild von den Deutschen auf ihren Motorrädern und der Sonne, die sich in ihren schwarzen Brillen spiegelt.«
Das Bellen eines Hundes holt sie ins Leben zurück, sie schleppt sich wieder ins Hotel.
Schlafen kann sie auch nicht, Essen fällt ihr schwer.
Leonora beschließt, sich mit der Disziplin ihres Elternhauses zu helfen, und versucht jeden Morgen trotz aller Schwierigkeiten zu gehen.
»Lieber Berg, ich will, dass wir zwei, du und ich, eine Vereinbarung treffen: Lass meinen Geist und meinen Körper sich mit dir vereinen.«
Sie legt sich auf die Erde, das Gesicht ins Gras gedrückt.
»Ich werde von der Erde aufgesogen, die Erde will mir ihre Kraft vermitteln.«
Sie stemmt sich hoch auf alle viere, stellt, auf die Ellbögen gestützt, erst den linken, dann den rechten Fuß auf, kann sich schließlich aufrichten und reibt sich die Ellbögen. Nach und nach gelingt ihr das Geradestehen immer besser, sie macht einen kleinen Schritt, noch einen, und vertraut darauf, bald wieder gehen zu können.
»Morgen versuche ich es noch einmal.«
Catherine und Michel kümmern sich nicht mehr um sie.
»Diese Frau ruiniert unser Leben«, sagt Michel.
»Auch mir fällt sie zur Last. Wenn ich sie erst einmal abgeliefert habe, werde ich sie bestimmt nie mehr wiedersehen.«
Nach zehn Tagen täglichen Übens kann Leonora inzwischen den Hang hochsteigen, zwar mit Ausrutschen und Hinfallen, aber das macht nichts, denn sie hat herausgefunden, wie sie ihre Beine in den Griff bekommt.
»Nie zuvor hatte ich meine Person so unter Kontrolle«, sagt sie zu Catherine und Michel, die sich über sie lustig machen.
Leonora weiß nicht, wie sie auf andere wirkt, welch einen merkwürdigen Anblick sie bietet. Catherine und Michel stellen sich taub und gehen allein spazieren. Einige Male nur folgen sie Leonora aus Pflichtgefühl auf deren Gebirgswanderungen. Schließlich ist sie ihr Passierschein nach Spanien. Die Carrington-Erbin weiß freilich nicht, dass stets die ›Vernünftigen‹ die Partie gewinnen.
Eines Tages erblickt Leonora nach einer mehrstündigen Gebirgswanderung von Weitem mehrere Pferde, die ihr den Kopf zuwenden. Unbekümmert geht
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