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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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verlaufen habe.
    »Ich wohne im Hotel Roma«, antwortet sie.
    Als sie um drei Uhr morgens in ihrem Zimmer ankommt, ruft sie Van Ghent an, um ihm von der Tragödie zu berichten. Der Holländer hängt wütend ein.
    Auf ihrem Bett liegen mehrere Nachthemden aus der Wäscherei. Leonora glaubt, Van Ghent habe sie ihr geschenkt, als Entschuldigung dafür, dass er sie allein gelassen hat. Sie nimmt ein kaltes Bad und zieht eines der Nachthemden an, ein rosafarbenes, nimmt abermals ein kaltes Bad und zieht das blassgrüne an und so weiter, von einem Nachthemd zum nächsten, bis der Morgen graut und sie beschließt, das rosa Nachthemd anzubehalten, weil es zur aufgehenden Sonne passt.
    Fest davon überzeugt, dass Van Ghent die Madrider Bevölkerung hypnotisiert und vergiftete Bonbons unter den Leuten verteilt, bittet Leonora die Hotelverwaltung, ihr Zeitungen und eine Schere zu geben, und schneidet Zettel aus, auf die sie tausendmal ›Hitler ist eine Gefahr für Madrid‹ schreibt. Als sie genügend Flugblätter beisammen hat, geht sie ins oberste Stockwerk des Hotels und wirft sie von dort auf die Straße. Sie beschreibt noch mehr Zeitungsfetzen: ›Visum für Max‹, ›Madrid muss befreit werden‹, ›Franco muss sterben‹, doch als sie sieht, dass die Leute darauf treten oder daran vorbeilaufen, rennt sie auf die Straße, schreit »Hitler wird uns zerstören!« und verteilt ihre Propaganda eigenhändig an die Passanten. Manche nehmen ihr einen Zettel ab, andere machen einen Bogen um sie.
    Kurz darauf steht sie atemlos vor Catherines Zimmer, fordert sie auf, ihr in die Augen zu schauen, und fragt sie:
    »Siehst du nicht, dass mein Gesicht das genaue Abbild des Krieges ist?«
    Catherine schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.
    Im Foyer des Hotel Roma, in der es inzwischen von deutschen Soldaten wimmelt, begegnet sie erneut Van Ghent und dessen Sohn.
    »Sie sind die Frau, die Flugblätter vom Dach wirft, nicht wahr?«, sagt der junge Mann schüchtern, der dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. »Wollen Sie wissen, wie es Harold Carrington geht?«, setzt er höflich hinzu, und als Leonora ablehnt, sagt sein Vater zu ihm:
    »Lass sie, sie ist verrückt.«
    Gedemütigt verlässt Leonora das Hotel und läuft über die Straße, wo sie beinahe überfahren wird, geht zum Retiro-Park und legt sich vor den staunenden Blicken von Kindern und Erwachsenen auf den Rasen. Als sie merkt, dass sie beobachtet wird, vollführt sie kleine akrobatische Kunststücke. Die Mütter nehmen ihre Kinder bei der Hand, verlassen eilig den Park und rufen die Polizei. Ein Offizier der Falange bringt Leonora in die Hotellobby zurück, und ein Page begleitet sie auf ihr Zimmer. Dort zieht sie sich wieder aus und verbringt Stunden damit, in kaltem Wasser zu baden.
    Die Nachthemden sind verschwunden.
    Van Ghent ist kein anderer als ihr Vater in abgewandelter Gestalt, ihr Henker, sie muss ihn zugrunde richten. Nur sie kann ihn besiegen, wie sie es schon als Kind getan hat. Das können Maurie, ihre Stute Winkie, Nanny, Gerard, König George VI . von England und der Sohn des Chauffeurs bezeugen.
    Plötzlich kommt ihr der Verdacht, die Zigaretten, die der Holländer ihr geschenkt hat, könnten vergiftet sein.
    ›Deshalb kann ich nicht schlafen.‹
    Madrids Befreiung kann nur gelingen, wenn man die Behörden über die schreckliche Herrschaft Van Ghents informiert, doch dafür ist eine Verständigung zwischen Spanien und England vonnöten. Sie ruft die englische Botschaft an, und als der Konsul ihren Namen hört, gibt er ihr umgehend einen Termin.
    »Hitler und seine Leute haben die Welt hypnotisiert, und Van Ghent ist Hitlers Stellvertreter in Spanien. Man muss ihn seiner hypnotischen Fähigkeiten berauben. Nur so lässt der Krieg sich beenden.«
    Leonora mit ihrer zerzausten Mähne und ihrem wilden, düsteren Blick ist von erschreckender Schönheit. Stehend trägt sie ihr Anliegen vor, höflich und in tadellosem Englisch. Der Diplomat kommt nicht einmal dazu, ihr einen Platz anzubieten.
    »Statt Zeit zu verlieren in Ihren Labyrinthen der Politik und der Ökonomie«, beschwört ihn Leonora, »müssen Sie die metaphysische Kraft nutzen und sie auf alle Menschen verteilen.«
    »Miss Carrington, bitte setzen Sie sich.«
    »Ich kann mich nicht hinsetzen, ich bin blockiert wie Catherines Fiat.«
    »Zeigen Sie mir bitte Ihren Pass.«
    Leonora wirft ihm ihre Handtasche auf den Schreibtisch.
    »Sind Sie die Tochter des Präsidenten von Imperial Chemical

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