Frau des Windes - Roman
bringe. Als sie versucht, die Wagentür zu öffnen, spritzt Doktor Pardo ihr Luminal, ein starkes Beruhigungsmittel, von dem ihr die Sinne schwinden. Bewusstlos gelangt sie zur Nervenheilanstalt von Doktor Mariano Morales.
Die Klinikanlage besteht aus mehreren Pavillons. Leonora wird auf einer Trage in den Pavillon ›Villa Covadonga‹ gebracht, eine geschlossene Abteilung für gemeingefährliche Patienten. Es ist der 23. August 1940.
Sie erwacht in einem kleinen, fensterlosen Raum. Zu ihrer Rechten erblickt sie einen kleinen Tisch, unter dem ein Nachttopf steht, und neben dem Bett einen Kleiderschrank. Dem Bett gegenüber führt eine Glastür auf einen Flur hinaus, dahinter liegt eine zweite Tür, die sie begierig belauert. Sie ahnt, dass es dort zur Sonne geht. Bestimmt hatte sie einen Autounfall und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Plötzlich merkt sie, dass man sie an Händen und Füßen mit Lederriemen ans Bett geschnallt hat.
»Warum bin ich hier?«, fragt sie die Krankenschwester auf Englisch. »Wie lange war ich bewusstlos?«
»Mehrere Tage«, antwortet die Schwester in holprigem Englisch. »Sie haben gewütet wie eine Bestie, sind wie ein Affe auf den Schrank geklettert und haben getreten und gebissen.«
»Und wer hat mich festgeschnallt?«
»Der Direktor des Krankenhauses. Am Abend Ihrer Ankunft hat er versucht, Ihnen etwas zu essen zu geben, aber Sie haben ihn gekratzt. Da hat er beschlossen, Sie festzubinden.«
»Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Machen Sie mich doch los«, bittet Leonora sie höflich.
»Werden Sie auch brav sein?«
Die Antwort kränkt sie – verhält sie sich denn nicht zu allen anständig? Sie kennt die Geheimformel für das Ende des Krieges, aber statt ihr zuzuhören, macht man sie mundtot. An Gewaltausbrüche kann sie sich beim besten Willen nicht erinnern.
»Wo sind meine Ärzte?«
»Nach Madrid zurückgefahren.«
»Sind wir weit weg von Madrid?«
»Sehr weit.«
»Darf ich mich anziehen und rausgehen?«
Leonora gelingt es mit viel Geschick, die Krankenschwester dazu zu überreden, sie loszuschnallen.
Mit zittrigen Beinen und steifen Bewegungen erkundet sie die Umgebung und entdeckt einen zweiten, mit Eisenstangen vergitterten Raum. Gitter sind kein Problem, sie wird die Stäbe schon dazu bringen, sich zu weiten und sie freizulassen. Als sie sich gerade wie eine Fledermaus an die Stäbe hängt, um sie auseinanderzuziehen, springt sie plötzlich jemand von hinten an, so dass sie zu Boden fällt. Ein Schwachsinniger hält sie umklammert. Sie wehrt sich, wirft sich auf ihn und kratzt ihn blutig, er macht sich los und flieht entsetzt.
»Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben«, ruft die Pflegerin Frau Asegurado empört. »Der Mann arbeitet als Wärter in der Villa Covadonga, Doktor Morales ist so großzügig, ihn hier wohnen zu lassen.«
»Was meinen Sie mit Villa Covadonga?«
»So heißt dieser Pavillon. Covadonga ist Don Marianos verstorbene Tochter und die Schwester von Don Luis, ihr zu Ehren wurde der Pavillon so genannt.«
Als sie wieder Nahrung zu sich nimmt und sich ein wenig erholt hat, darf Leonora hinaus in den Obstgarten. Aus den trockenen Blättern, die unter ihren Füßen knistern, schließt sie, dass der Sommer zu Ende ist.
Die Insassen, denen sie begegnet, gestikulieren wild oder führen Selbstgespräche, manche legen sich auf den Rasen und werden von ihren Begleitern hochgezogen. Eine alte Frau zieht sich die Kleider aus, eine andere, in einen Mantel gehüllt, pustet in ihre Hände, um sie zu wärmen. Angst entstellt ihre Gesichtszüge, verzerrt ihre Bewegungen. Gefühle sind das Einzige, was sie haben, und sie wissen nicht, wie sie sie ausdrücken sollen. Sie bemühen sich um das Wohlwollen der Krankenschwestern, versuchen, sie zu überzeugen. Aber sie haben die Worte verloren. Zwei Frauen sehen aus wie Tote, sitzen vollkommen reglos auf einer Bank und blicken trotz des absurden Schauspiels um sie herum nicht auf. Wer bestraft sie? Wer hindert sie daran, sich zu bewegen? Sind es womöglich Jüdinnen? Dann muss Leonora sie beschützen.
»Setzen Sie sich bitte hier auf die Bank.«
»Was ist los mit all diesen Leuten?«, fragt Leonora. »Was haben sie? Sind es Juden?«
»Sie haben den Verstand verloren, aber hier lernen sie wieder, in der Gesellschaft zu leben«, antwortet Frau Asegurado.
»Das hier ist also das Leben in der Gesellschaft?«
Ihre Krankenschwester bittet sie, sich nicht zu entfernen.
»Setzen Sie sich brav hin, Sie haben
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