Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
ausläuft, werden Sie in einem wunderschönen Haus in Estoril wohnen.«
    »Wie herrlich.«
    Leonora hat gelernt, listiger zu sein als der Feind.
    In dem Haus in Estoril, wenige Kilometer von Lissabon entfernt, tropft das Wasser nur verzögert in die Badewanne, und in einem Käfig plappern mehrere Papageien. Nachts im Bett tüfftelt Leonora einen Fluchtplan aus, und beim Frühstück sagt sie zu der strengen Frau:
    »Ich brauche etwas Warmes zum Schutz gegen die Kälte. Ich möchte mir Handschuhe und einen Hut kaufen.«
    »Natürlich«, sagt die griesgrämige Frau, »kein Mensch geht in dieser Jahreszeit ohne Handschuhe und Hut vor die Tür.«
    Als sie in Lissabon den Bahnhof verlassen, entdeckt Leonora ein Café. ›Jetzt oder nie‹, denkt sie. Viel Zeit zum Handeln bleibt nicht.
    »Ich muss dringend auf die Toilette.«
    Sie fleht die himmlischen Heerscharen an, das Café möge einen Hinterausgang haben. Im Gastraum sitzt die Aufpasserin am Tisch und wartet.
    Leonora hat sich nicht getäuscht, zudem hält ausgerechnet in diesem Moment ein Taxi.
    »Zur mexikanischen Botschaft.«
    Sie bezahlt mit dem Geld, das sie für die Handschuhe bei sich hat.
    In der Botschaft erkundigt sie sich in ihrem Anstaltsspanisch nach Renato Leduc.
    »Der kommt nie zu festen Zeiten.«
    »Dann bleibe ich hier und warte auf ihn.«
    »Aber Señorita …«
    »Die Polizei sucht mich!«
    Mehrere Augenpaare richten sich auf sie. In diesem Augenblick öffnet sich die Tür zum Büro des mexikanischen Konsuls Emmanuel Fernández.
    »Sie befinden sich auf mexikanischem Boden und genießen diplomatische Immunität. Hier können Ihnen selbst Ihre Landsleute nichts anhaben«, versichert er ihr.
    Ist das alles wahr oder nur ein Traum? Niemand behandelt sie schlecht, und als schließlich Renato auftaucht, an dessen Mitgefühl kein Zweifel besteht, ist sie am Ziel.
    »Deine Sorgen sind vorüber, Leonora, jetzt erholst du dich erst mal, dafür musst du gut essen und gut schlafen.«
    Er bringt sie in ein Hotel. Das Frühstück mit Renato am nächsten Morgen ist eine Wonne. Er ist fröhlich und geistreich, seine bloße Gegenwart anregend, und vor ihr teilt sich der Horizont wie das Rote Meer vor Moses. Leonora galoppiert der Zukunft entgegen.

Renato Leduc
    Schon als sie Renato damals in Paris kennengelernt hat, fand sie ihn attraktiv; jetzt, da er neben seiner sympathischen Ausstrahlung auch noch die Fähigkeit besitzt, sie zu retten, gefällt er ihr erst recht.
    Sie mag seinen Akzent, wenn er Französisch spricht.
    »Die Sprache habe ich von meinem Vater gelernt und sie mit ihm geübt. Ich bin immer umhergezogen, zu Fuß, zu Pferde, mit der Bahn, mit dem Rad, egal wie, ich habe das Reisen im Blut. Ich glaube, in meinem früheren Leben war ich eine Wolke.«
    Täglich überrascht er sie mit seinen Geistesblitzen oder flüstert ihr ein Gedicht ins Ohr, das wie für sie gemacht scheint: ›Schwarz, so schwarz ist ihr Haar, schwarz auch ihre Augen, / wie der Ruf einer Schwiegermutter / schwarz, so rabenschwarz.‹ Leonora lacht.
    »Hattest du mal eine Schwiegermutter?«
    »Nein. Max war ein mutterloser Geselle.«
    »Du sagst es.«
    Tag für Tag kommen Männer, Frauen und Familien in die mexikanische Botschaft, um Passierscheine zu beantragen, und es werden immer mehr. Während Renato sich um ihre Anliegen kümmert, geht Leonora spazieren, atmet die salzige Meeresluft ein, schaut lächelnd dem Flug der Möwen zu, raucht und verdrängt, so gut es geht, ihre Angst vor der väterlichen Verfolgung. Das Hotel, in dem sie wohnen, ist sauber, und Renato ist es auch. Ein Mann reinen Herzens. Er stellt keine Fragen, schlägt ihr vor, sie zu begleiten, um Leinwände und Farbtuben zu kaufen, damit sie in der Zeit bis zur Abreise malen kann.
    »Wer weiß, wie lange wir noch hierbleiben müssen. Viele Leute warten, und die meisten sind in einer miserablen Lage.«
    »Der Krieg macht alles kaputt, stimmt’s, Renato?«
    »Ja«, antwortet er ihr wie einem kleinen Mädchen.
    Lissabon, der Auslaufhafen, ist randvoll mit Flüchtlingen. Sogar die vollgestopften Straßen scheinen auf ihre Abreise zu warten. Leonora schlendert über den Markt, da bleibt sie plötzlich wie angewurzelt stehen – nein, das ist unmöglich, das muss eine ihrer Halluzinationen sein, Menschen ähneln einander. Aber dieser große, weißhaarige Mann sieht genauso aus wie Max, sein Rücken ist der von Max. Auf diesen Mann, der einen Hammer abwägend in der Hand hält, wie Max es tun würde, muss sie einfach

Weitere Kostenlose Bücher