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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Sohn Morales schicken sie mit der Bahn nach Madrid, in Begleitung ihrer Pflegerin Frau Asegurado. Es ist der Silvestertag des Jahres 1940, eisige Temperaturen verfärben ihre Haut bläulich, und in Ávila hat der Zug stundenlang Aufenthalt. Auf einem der angrenzenden Gleise steht ein Güterzug mit Waggons voller Schafe, die vor Kälte jämmerlich blöken.
    »An diese leidenden Schafe werde ich mich mein Lebtag erinnern«, sagt Leonora und schlägt die Hände vors Gesicht.
    Frau Asegurado schaut aus dem Fenster.
    Leonora hält sich die Ohren zu und denkt: ›In der Villa Covadonga war ich eines dieser Schafe.‹
    In Madrid steigen sie in einem luxuriösen Hotel ab, das die väterliche Firma bezahlt. Frau Asegurado ist beeindruckt und erlaubt Leonora, einen Tanztee im Erdgeschoss des Hotels zu besuchen. Das Orchester spielt einen Straußwalzer. Ein Mann kommt auf sie zu und fordert sie zum Tanzen auf, doch als sie aufstehen will, befiehlt Frau Asegurado:
    »Sie dürfen den Tänzern zuschauen, aber nicht selbst tanzen.« »Und trinken?«
    »Das ja, ich werde uns zwei Gläser Rioja holen, die ich gerade auf einem Tablett entdeckt habe.«
    Zu ihrer Überraschung läuft Leonora Renato Leduc in die Arme, der sich in Begleitung einer atemberaubenden Blondine im Hotel aufhält, und erzählt ihm sogleich von ihrer Odyssee.
    »Ich bin hier mit einer Krankenschwester, Frau Asegurado, da hinten sitzt sie mit ihrem Glas Wein in der Hand. In Santander hat man mich ins Irrenhaus gesteckt und mir Cardiazol gespritzt – dreimal, wie drei Elektroschocks. Mein Vater lenkt mein Schicksal, er will mich wieder zu sich nach England holen, aber lieber sterbe ich, als mich weiter von ihm kontrollieren zu lassen.«
    »Wir müssen unbedingt etwas unternehmen!« Die blonde Frau ist den Tränen nahe.
    »Wo willst du um Gottes willen von Madrid aus hin, Renato?«, fragt Leonora.
    Da nähert sich Frau Asegurado, das Glas in der Hand.
    Sie sprechen Französisch, eine Sprache, die die Deutsche nicht versteht.
    »Frag in der mexikanischen Botschaft von Lissabon nach mir«, antwortet Leduc.
    In der Nacht schläft Leonora wesentlich ruhiger, die Krankenschwester schnarcht.
    Am anderen Morgen tauchen der Konsul der britischen Botschaft und der Direktor der Madrider ICI -Niederlassung auf, ein Lächeln im Gesicht, und laden sie zum Abendessen ein. In seinem Haus zeigt der Direktor sich überaus liebenswürdig.
    »Bitte essen Sie.«
    Leonora spürt das Misstrauen, das ihr als ehemaliger Irrenhäuslerin entgegenschlägt, und merkt, wie die Ehefrau des Direktors zusammenzuckt, als sie Messer und Gabel ergreift. Harold Carringtons Tochter muss sich zusammenreißen, um nicht aus der Rolle zu fallen.
    »Es scheint, als sei ich eine Bedrohung für die Madrider Oberschicht«, sagt sie, das Messer in der Hand.
    Beim nächsten gemeinsamen Abendessen ist die Frau des Direktors nicht dabei.
    »Dies ist das beste Restaurant von Madrid«, sagt er und lächelt.
    Leonora bestellt Steinbutt in Champagnersauce.
    »Ihre Familie hat beschlossen, Sie in ein Sanatorium nach Südafrika zu schicken, wo Sie sich sehr wohl fühlen werden.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher.«
    »Ich hätte da noch einen anderen Vorschlag: Ich könnte Ihnen hier eine Wohnung kaufen und Sie sehr oft besuchen«, sagt er und legt seine Hand auf ihren Oberschenkel.
    Leonora steht vor einer riesigen Entscheidung: Entweder sie besteigt das Schiff nach Südafrika, oder sie geht mit diesem grässlichen Mann ins Bett. Um Zeit zu gewinnen, läuft sie zur Toilette.
    Beim Verlassen des Restaurants versucht der Direktor, den Arm um sie zu legen.
    »Kommen Sie, es ist kalt.«
    Plötzlich zerrt ein heftiger Windstoß an dem metallenen Restaurantschild, das genau vor Leonoras Füßen zu Boden kracht.
    »Das hätte Sie erschlagen können!« Er umarmt sie noch fester.
    »Nein, meine Antwort lautet nein«, sagt Leonora und windet sich aus seiner Umklammerung.
    »Wie Sie wollen! Dann eben Portugal und von dort aus weiter nach Südafrika.«
    »Portugal?«
    Der britische Konsul setzt sie in den Zug und händigt ihr ihre Papiere aus, die offenbar wieder aufgetaucht sind.
    ›Ich gehe weder nach Südafrika noch in irgendein anderes Sanatorium‹, denkt Leonora.
    Am Bahnhof in Lissabon wird sie von einer Abordnung von Imperial Chemical Industries in Empfang genommen: zwei Männer, die wie Polizeibeamte aussehen, und eine Frau mit strenger Miene.
    »Sie haben großes Glück«, sagen sie. »Bis das Schiff nach Afrika

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