Frau Holle ist tot
gerechnet hätte, er hätte
nichts anders machen können. Schließlich hatte sie ihm die entscheidenden Infos
geliefert. Viel mehr ärgerte ihn, dass er bei Marie nichts erreicht hatte. Was
lief zwischen der kleinen Schlampe und dem Monster? Konnten die zwei ihm in die
Quere kommen, oder hatten sie keine Ahnung, was gerade abging? Der Riese hatte
nicht so ausgesehen, als ob er irgendetwas raffte. Aber bei Marie konnte man
das nicht wissen, die war clever.
Wenn er das Ding durchziehen wollte, dann musste er
jetzt handeln. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, hatte er irgendwo mal
gelesen. Und Kevin wollte nicht zu spät kommen. Das war die Chance seines
Lebens, aus dem Dreck herauszukommen, aus der dunklen Wohnung, aus dem Mief aus
Armut, Schimmelpilz und feuchten Wänden. Nie mehr Autos knacken, umlackieren
und für ein paar lumpige Kröten in den Osten verschieben, das ganze Risiko für
ihn und die ganze Knete für den Chef. Die Chance, das ganze Elend hinter sich
zu lassen, durften ihm zwei durchgeknallte Tussis und ein unterbelichteter
Kleiderschrank nicht versauen.
Noch hatte er alles unter Kontrolle, und das sollte
auch so bleiben. Er griff zum Telefon, wählte die Nummer seines zukünftigen
Sponsors.
»Schauen Sie in Ihre E-Mails«, sagte er, als sich die
Zielperson am anderen Ende der Verbindung meldete. »Ich habe Ihnen ein Video
geschickt, das Sie bestimmt interessieren wird. Und ein paar Fotos. Sie können
das Video und die Fotos bekommen. Sagen Sie jetzt nichts. Es kostet Sie
zweihunderttausend Euro. Ich weiß, dass Sie sich das leisten können. Wenn Sie alles
gesehen haben, werden Sie die Sachen haben wollen, es sind echte Kunstwerke.
Ich melde mich wieder.«
Er legte auf und lachte. Aus dem Tag war doch noch was
geworden. Bald würde er reich sein.
Mittwoch, 26. Oktober
Waltraud Fromm starrte auf die Zeitung, die ihr
die Schwester gebracht hatte. Sie wollte nicht glauben, was sie da las. Sie las
den Artikel noch einmal, aber es stand immer noch dasselbe da. Tränen flossen
über ihre Wangen.
Wiesbaden, 26.10. Einen grausigen
Fund machte am vergangenen Sonntag eine Martinsthaler Bürgerin, als sie die
Katze ihrer Nachbarin versorgen wollte und dabei die Leiche der Nachbarin fand.
Bei der Toten handelt es sich um Dr. Sylvia Holler. Die Polizei geht von
einem Verbrechen aus und bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Wer Angaben über
die Aktivitäten von Frau Dr. Holler am Freitag, dem 21.10., machen kann
oder sonstige sachdienliche Hinweise hat, soll sich an das Polizeipräsidium
Westhessen oder jede andere Polizeidienststelle wenden. Telefonnummer …
Am Freitag hatte sie noch mit Sylvia telefoniert. Dr. Becker
hatte ihr zuvor eröffnet, dass sie sofort in eine Klinik müsse. Sie hatte
eingewandt, dass sie ihren Jungen nicht allein lassen könne, aber ihr Hausarzt
war unerbittlich geblieben. Die Krankheit habe ihr Herz in Mitleidenschaft
gezogen, und sie könne jederzeit sterben, wenn sie sich nicht umgehend in
stationäre Behandlung begebe. Er hatte sogar gedroht, die hausärztliche
Betreuung niederzulegen, wenn sie seinen Anordnungen in diesem Fall nicht Folge
leistete.
Also hatte sie ein paar Sachen gepackt und Sylvia
angerufen. Sie hatte ihre Freundin und Exschwägerin gebeten, ab und zu nach
ihrem Jungen zu schauen, und Sylvia hatte nach kurzem Zögern vorgeschlagen, er
sollte sie am Samstagmorgen besuchen. Sie hatte noch etwas von einer Reise nach
Berlin gesagt, aber da hatte Waltraud schon gar nicht mehr richtig hingehört,
so froh war sie über Sylvias Zusage gewesen.
Bis vor wenigen Minuten war Waltraud sicher gewesen,
dass Sebastian sie noch nie in seinem Leben belogen hatte. Der Junge wusste gar
nicht, was Lügen sind, war ihre Meinung gewesen, er war eine zu ehrliche Haut
für so etwas und auch nicht raffiniert genug.
Was sollte sie also davon halten, dass er sie gestern
derartig angeflunkert hatte? Waltraud war gekränkt und traurig. Seit Bastis
Geburt hatte sie ihr ganzes Leben seiner Erziehung und seinem Wohlergehen
gewidmet. Sie hatte das immer gern getan, meist hatte sie es nicht als Opfer
empfunden. Der Junge gab so viel zurück, mit seinem Eifer, seiner Direktheit,
seiner Unverdorbenheit und seinen sonderbaren Begabungen. Und seiner
unbedingten Ehrlichkeit, hatte sie bis vor ein paar Minuten gedacht. Ihr wurde
schwer ums Herz. Keine Aufregungen, hatte der Arzt gesagt. Der hatte gut reden.
Sie hatte als Erstes zu Hause angerufen, aber
Sebastian war nicht rangegangen.
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