Frau Holle ist tot
Cappuccino für sich und einem
doppelten Espresso für Mayfeld zurück.
»Ich habe den Eindruck, dass Sie mir am Montag nicht
alles über Ihre Beziehung zu Sylvia Holler erzählt haben.« Mayfeld hatte sich
entschieden, das Gespräch direkt und ohne Höflichkeitsfloskeln zu eröffnen.
»Was wollen Sie denn wissen?« Weisz nippte an seinem
Cappuccino.
»Sie standen sich sehr nahe.« Mayfeld schüttete sich
eine kräftige Portion Zucker in den Espresso.
»Habe ich das vorgestern nicht gesagt? Und warum ist
das wichtig?«
»Alles kann wichtig sein. Das hier sind Ermittlungen
in einem Mordfall. Und können wir uns für den Rest des Gesprächs darauf
einigen, dass ich die Fragen stelle?«
Weisz schien eine Weile nach einer Antwort auf die
Zurechtweisung zu suchen, bevor er zu reden begann.
»Jeder von uns beiden ist seinen eigenen Weg gegangen.
Es ist schon richtig, was ich am Montag gesagt habe. Aber ich habe Sylvia
geliebt. Als ich erfahren habe, dass sie tot ist, war das ein fürchterlicher
Schock für mich. Wahrscheinlich habe ich deswegen so rumgedruckst.«
»War Ihre Beziehung ein Geheimnis?«
»Sylvia wollte anfangs nicht, dass unsere Verbindung
öffentlich wird. Junger Mann und ältere Frau, da zerreißen sich die Leute doch
das Maul, aller angeblichen Toleranz zum Trotz.« Weisz verzog verächtlich den
Mund.
»Hatten Sie deswegen Streit?«
»Nein. In letzter Zeit hat sie das anders gesehen. Sie
stand zu unserer Beziehung, das war kein Streitpunkt mehr zwischen uns.«
Er stellte die Cappuccinotasse mit großer
Entschiedenheit auf den Tisch, so als könnte er damit den Wahrheitsgehalt
seiner Behauptung unterstreichen.
»Seit wann kennen Sie sich?«
Weisz begann zu erzählen. »Ich habe sie vor zwei
Jahren kennengelernt. Sylvia war im Förderverein von Schloss Freudenberg
engagiert. Ich habe den Auftrag für einige der Klanginstallationen bekommen,
die Idee für den ›Raum der Resonanz‹ haben wir zusammen entwickelt. Ich war
damals gerade aus Budapest hierhergekommen. Sylvia hat mich mit Leuten bekannt
gemacht. Das ist in der Kulturszene das Wichtigste: Leute kennen.«
»Und diese Leute sind so spießig, dass Frau Holler
eine Liaison mit einem jüngeren Mann geheim halten musste?«
Weisz lächelte. »Natürlich nicht. Aber die Leute auf
den Vernissagen und in den Konzerten, die sind nicht das Leben. Sylvia war eine
sehr bodenständige Frau, ein Rheingauer Gewächs nannte sie sich. Wenn es darum
geht, wer die Katze füttert oder wer den Einkauf besorgt, wenn man mal krank
ist, dann sind die Rheingauer Nachbarn wichtiger als die Wiesbadener
Kulturschickeria.«
Mayfeld fragte nach Hollers Engagement im
Freudenberger Förderverein, aber Weisz konnte nichts Interessantes berichten.
In letzter Zeit hatte sich Holler zurückgezogen und außer ihren Märchenlesungen
im Schloss kaum noch etwas Erwähnenswertes für das »Erfahrungsfeld Freudenberg«
unternommen.
»Sie wollen gar nicht wissen, warum ich Sie noch mal
befrage«, stellte Mayfeld fest. Er holte eine Kopie des Testaments aus seiner
Jackentasche und hielt sie Weisz hin. »Kennen Sie das?«
Weisz runzelte die Stirn und nahm das Dokument
entgegen. Als er es gelesen hatte und Mayfeld zurückgab, schüttelte er
ungläubig den Kopf.
»Davon hatte ich keine Ahnung. Sie hat nie mit mir
darüber gesprochen.«
»Sie vermacht Ihnen ein Haus und eine Geldsumme im
sechsstelligen Bereich und sagt kein Wort davon?«
»Genauso ist es gewesen.«
Mayfeld wurde den Eindruck nicht los, dass Weisz ihm
etwas verschwieg. Der Mann hatte kein Alibi, er hatte ein Motiv, und er hatte
die Gelegenheit zur Tat gehabt. Und er versuchte, wie die reine Unschuld zu
wirken.
»Worüber haben Sie am letzten Freitag gestritten?«,
setzte Mayfeld nach.
»Das ist jetzt nicht mehr wichtig«, sagte Weisz mit
belegter Stimme und einer Art Trauerflor um die Augen.
»Es ist sehr wohl wichtig«, widersprach Mayfeld. »Weil
ich es wissen will.«
»Sie lassen wohl nie locker?«
»Also?«
Weisz ließ seinen Blick über den Park schweifen, in
dem verschiedene Kunstinstallationen und ein Zirkuszelt unter alten Bäumen zu
bewundern waren. Die Betrachtung zweier Jugendlicher, die sich auf miteinander
verbundenen Schaukeln bewegten, schien ihn besonders zu fesseln.
»Wie ich schon sagte, es waren künstlerische Auseinandersetzungen.
Sylvia wollte ihr neues Märchenprogramm nicht mehr mit Harfe und Klangschalen
begleiten lassen, sie meinte, das komme bei den Leuten zu esoterisch an.
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