Frau Holle ist tot
doch schon
mitten drin.«
Annika sah sie forschend an. »Wieso? Was weißt du?«
Marie wurde schwindelig. Einen Anfall wie vorhin auf
dem Quad konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Sollte das zur Gewohnheit
werden?
»Gib mir doch eine Flippe.«
Annika holte eine Schachtel Zigaretten aus dem
Morgenmantel, steckte sich zwei in den Mund und zündete sie mit der
angerauchten Kippe an, die sie anschließend über das Geländer warf. Eine
Zigarette reichte sie Marie.
»Kannst es dir anschließend ja wieder abgewöhnen«,
sagte sie.
Der Schwindel wurde durch das Nikotin noch etwas
stärker, aber die Unruhe ging weg.
»Was ich weiß? Es ist doch eher die Frage, was ich
alles nicht weiß. Ich weiß zum Beispiel nicht, warum du am letzten Samstag
nicht zu unserem Treffpunkt gekommen bist. Ich weiß nicht, was es mit dem Handy
auf sich hat, das ich mitnehmen sollte und das dein doofer Bruder unbedingt
haben wollte. Ich weiß nicht, warum du dir dermaßen die Kanne gegeben hast.
Wolltest du dich eigentlich umbringen oder was? Oder sollte ich dich vorher
finden?«
Annika bekam ein nervöses Zucken um die Mundwinkel.
Das bekam sie immer, wenn sie richtig im Stress war. Es verlieh ihr einen
ziemlich irren Gesichtsausdruck, fand Marie.
»Sie sind hinter mir her. Du scheinst keine Ahnung zu
haben, worum es geht, und das ist gut so. Dann hast du eine Chance, heil aus
der Geschichte rauszukommen. Wie gesagt, ich will dich da nicht reinziehen.«
Annika biss sich auf die Lippen.
»Ich bin deine Freundin. Natürlich helfe ich dir. Ich
hab dein Handy mitgebracht.«
Sie holte das Handy aus ihrem Rucksack und reichte es
Annika. Die betrachtete es lange.
»Ist dir jemand gefolgt?«
Marie schüttelte den Kopf. Gefolgt war ihr tatsächlich
niemand, das war nicht gelogen.
Annika fluchte, als sie bemerkte, dass der Akku des
Handys leer war. Sie fummelte eine Karte aus dem Gerät und gab sie Marie.
»Was soll ich denn mit der Telefonkarte?«
»Das ist eine micro SD -Card.
Damit kann man den Speicher erweitern. Das Telefon funktioniert auch so.«
»Ich weiß, was eine Speicherkarte ist.«
»Könntest du die Karte für mich aufbewahren?«
Klar machte Marie das.
»Kevin wollte die Karte haben. Was ist denn drauf?«,
fragte die dieFreundin.
Aber Annika mochte nicht darüber reden. Sie murmelte
etwas von einem Scheißvideo. Marie musste versprechen, sich das, was auf der
Karte gespeichert war, nicht anzusehen.
»Vielleicht sollten wir einfach zusammen abhauen«,
überlegte Annika. »Ist bloß die Frage, wo wir sicher sind.« Sie musterte Marie
lange. »Bei dir zu Hause bestimmt nicht.«
Wenn sie jetzt der Freundin erzählte, dass draußen ein
Riese wartete, der sie drei Tage bei sich zu Hause eingesperrt hatte und vor
dem sie dennoch nicht davongelaufen war, als sie die Gelegenheit dazu hatte,
weil sie nicht wusste, wohin, wenn sie der Freundin das erzählte, würde die
vermutlich völlig ausrasten, sie hochkant von der Station schmeißen lassen und
sich in ihrem Zimmer verbarrikadieren, so schräg, wie sie momentan drauf war.
Das hatte Marie vorher nicht bedacht, aber woher sollte sie auch wissen, dass
Annika so durcheinander war?
»Ich muss nachdenken«, sagte Annika. »Ich weiß noch
nicht, wie es weitergehen soll. Morgen wollen die mich hier sowieso entlassen.
Natürlich könnte ich auch einfach so hier hinausspazieren, aber vielleicht ist
es gescheiter, mal überhaupt nicht aufzufallen.«
Sie warf ihre Kippe über die Balkonbrüstung nach
unten. Marie tat es ihr gleich.
Die Balkontür wurde geöffnet, und ein Mann kam auf sie
zu.
»Das ist Herbert«, stellte Annika den alten Knacker
vor. »Der einzige vernünftige Mensch hier im Krankenhaus. Er hat mir Supertipps
gegeben, wie ich den Irrenarzt übers Ohr hauen kann.«
Marie sagte: »Hallo.«
Der Alte fingerte eine Schachtel Zigaretten aus seiner
Jackentasche, bot den beiden welche an. Als Marie ablehnte, murmelte er etwas
wie »Ist auch besser so« in seinen Bart.
»Ich will nicht weiter stören und hau gleich wieder
ab. Aber ich wollte die letzten Sonnenstrahlen nutzen, bevor man sich zum Rauchen
wieder in den Keller verkriechen muss«, schimpfte der Alte. »Morgen verlass ich
den Saftladen.«
»Ich auch«, stimmte Annika zu. »Besorgst du mir ein
Ladegerät für das Teil hier?«, fragte sie Marie. »Wir telefonieren dann heute
Abend.«
Marie atmete auf. Der Vorschlag verschaffte ihr Zeit
zum Nachdenken. Wie sie sich von Basti absetzen könnte. Und ob sie
Weitere Kostenlose Bücher