Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
17 also kein Kind gepflegt, sondern eine bejahrte Rheumapatientin. Anscheinend war für sie in ganz Arnheim, in ganz Den Haag keine einzige Wochenpflege zu finden gewesen und sie war gezwungen, auch ›normale‹ Pflegefälle anzunehmen und dafür sogar in ein Nest wie Zweelo zu reisen.
Dem Namen van Reemst, den die alte Dame nannte, war ich übrigens schon vorher begegnet. Er stand in dem zweiten Brief aus Sleen, vom März 1917, in dem eine Frau Manssen Frijlinck schreibt:
Da ich mit viel Vergnügen Ihre Bekanntschaft machte, bei der Familie van Reemst, wäre es mir sehr angenehm, wenn Sie die Wochenpflege für mich und mein Kind übernehmen könnten.Gerne hätte ich das eine oder andere mündlich mit Ihnen besprochen, doch durch Ihre plötzliche Abreise war das nicht möglich. Ich hoffe, ich komme jetzt nicht zu spät mit meiner Anfrage …
Das muss dann der Säugling aus Sleen gewesen sein, der mit dem abgeflachten Kopf – die zweite Wochenpflege aus dem kleinen Album von Schwager Jacob.
Ein dritter Brief aus Sleen, vom 24. August 1917, stammte von der oben erwähnten Frau van Reemst selbst. Auf dem Umschlag fand sich Annetjes Kommentar:
Für dieses Bürschchen war ich gerade rechtzeitig zur Stelle, um es ins Leben zurückzurufen, seine Speiseröhre funktionierte nicht gut
.
Es war eine seltsame Zeit, einem Arzt musste man durch so was wie einen Ausrufer auf die Spur kommen.
Frau van Reemst hatte ein Foto mitgeschickt von
Gertrudusje van Reemst, geboren den 23. Januar 1917.
Das Bürschchen sprach selbst ›persönlich‹ von sich und gratulierte Schwester Beets zu ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag:
Liebe Schwester Beets, kennen Sie mich noch? Ich bin Gertrudusje van Reemst. Ich denke immer noch oft an Sie, weil Sie so gut für mich gesorgt haben. Und jetzt gratuliere ich Ihnen zum Geburtstag und hoffe, dass Sie einen schönen Tag haben werden. Ich fände es so schön, wenn Sie wieder einmal hier vorbeikämen und nach mir sähen, das würde ich so nett finden. Papa und Mama fragen, ob ich auch in ihrem Namen Ihnen zum Geburtstag gratulieren will. Ganz viele Grüße von ihnen. Dann also auf Wiedersehen, liebe Schwester Beets!
Ein Kuss von Ihrem kleinen Gertrudus
Endlich kam Struktur in die Chronologie: Die zweite Wochenpflege aus Jacobs Nikolausalbum war identifiziert. Frau van Reemst hatte Annetje verschiedende Fotos von sich mitgeschickt,mit und ohne Gertrudus; selbst eines von Wöchnerin und Pflegerin zusammen, in eleganten Korbstühlen, in einem schicken Sleen’schen Interieur:
Zur Erinnerung an Sleen, Februar/März 1917.
Annetje hatte es offensichtlich monatelang bei den van Reemsts ausgehalten. Und dann war da ja auch noch die Zeit bei Manssen Frijlinck, für die sie im Mai angefordert worden war.
Sleen. Im Atlas war es nicht verzeichnet. Ich nahm zusätzlich noch eine Straßenkarte zur Hand und suchte im Kleingedruckten des angegebenen Quadranten. Es lag in Drenthe, westlich von Emmen. In der Nähe fand ich das ebenso winzige Zweelo. Annetje hatte also mindestens von Dezember 1916 bis Mai 1917 in dieser Gegend gesteckt.
Es war mir ein Rätsel, was sie in diesen abgelegenen Winkel gelockt hatte. Wollte sie dort eine Praxis errichten, weil da so viele Babys zur Welt gebracht wurden?
Dann sah ich es.
Coevorden.
Zweelo und Sleen lagen in der Nähe von Coevorden. Wohin Piet Oud, zum 1. Januar 1916, aus Amsterdam versetzt worden war. Coevorden, das so bequem nahe bei seinem Wohnort in Overijssel gelegen war.
Ich tauchte wieder in das Fotoalbum ein und wurde auch fündig: ein kleiner Saal, ein paar Frauen mit Baby. Ich zog das Foto ab.
Entbindungsklinik Aleida, Coevorden, April 1917,
stand auf der Rückseite.
Annetje, die dem alten Oud versprochen hatte, ihren Geliebten nicht mehr zu sehen; Piet Oud, der es seinem Vater geschworen hatte: Die Liebe war stärker gewesen als der Schwur.
Ich fiel mit neuem Eifer über die Briefe her. Was hatte die Frau Manssen Frijlinck Annetje noch mal genau geschrieben, am 16. März 1917?
Wir erwarten das Kind in den letzten Maitagen, am 27. oder 28., aber ich habe bereits zweimal festgestellt, dass ich zehn Tage später bin als zum normalen Datum. Nun möchte ich Ihnen ehrlich sagen, dass es uns zu kostspielig wäre, wenn Sie hier zehn oder zwölf Tage im Voraus anwesend wären und wir Ihnen die Tage vergüten müßten. In diesen Zeiten und nach einem sehr teuren Umzug kommt uns eine Extra-Ausgabe nicht zupass. Seien Sie bitte
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