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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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haben, während ihrer letzten Ausbildungsphase, im Februar 1916, einen Blanko-Geburtsschein vom Schreibtisch der Oberschwester zu entwenden und teilweise in ihrer eigenen Handschrift auszufüllen; mit einer gefälschten Unterschrift von H.   C.   Oud. Weshalb hat sie das getan?
    Wegen der Vereinbarung natürlich mit dem alten Herrn Oud, dass er die Vaterschaft auf sich nehmen würde, sollte jemals etwas herauskommen. Oder als Beweis – sollte jemals in der Zukunft danach gefragt werden – für die Existenz eines Kindes. Absichtlich wählte sie einen Geburts- und Todestag, der in einem sicheren zeitlichen Abstand zum Geburtstag jenes zuvor tatsächlich geborenen Kindes lag, dessen wahre Eltern niemand kennen durfte.
    Im Juli 1916 machte Annetje Urlaub in dem Ort Bergen, mit Vera und den Kindern. Ihre Freundin Baars schreibt ihr dorthin über die Routine auf der Frauen- und Kinderstation im Wilhelmina-Hospital:
     
    Schwester De Liefde führt wie immer das Zepter; sagt dem Doktor, was er sagen soll, wirft die Schwestern wie Bälle in die von ihr gewünschte Richtung usw. Es sind wieder einige weggegangen wie Putten, De Wilde u.   a. Putten ist bei Schwester Van de Wal als Außenschwester. Aber es kommen doch immer wieder viele zurück.
     
    Doch Annetje kehrt nicht zurück. Mit ihrem
Ooievaartje
in der Tasche und dem Geld vom alten Oud kann sie ihre eigene Praxis eröffnen. Ein gutes Jahr lang gelingt es ihr, in Eigenregie zu arbeiten. Anscheinend ist das aber recht schwierig. Denn im Mai 1917 meldet sie sich bei einer Agentur für private Krankenpflege in Arnheim, um sich Aufträge als Wochenpflegerin vermitteln zu lassen. Die Leiterin ersucht um eine Referenz beim Wilhelmina-Hospital. Sie ist ebenso knapp wie vielsagend:
     
    Schwester A.   Beets hat vom 15.   Juli 1914 bis 26.   Juni 1915 und vom 17.   Januar 1916 bis 16.   Mai 1916 hier in der Frauenklinik gearbeitet. Sie ist nicht stark. Sie hat hier einen sehr guten Eindruck hinterlassen.

Die Zweelo-Verbindung
     
    An dieser Stelle kam ich nicht weiter. Die Jahre, in denen Annetje als Wochenpflegerin gearbeitet hatte, schienen so eintönig. All die Briefe von glücklichen jungen Müttern, die ihr »liebstes
Bakertje
1 « anflehten, doch noch einmal vorbeizukommen , um zu sehen, wie der Sprössling gedieh, und ihr ständig für Vasen und Milchbecher dankten, die sie ihnen zugesandt hatte – zweifellos ausgemusterte Exemplare aus Jacobs Fabrik. Am liebsten hätte ich diese Zeit übergangen. Nach der Episode mit Piet Oud, die so abrupt mit Annetjes Schwangerschaft und Geburt ihres heimlichen Kindes geendet hatte, stellten die Jahre als Wochenpflegerin eine schwierige Periode dar.
    Eine Reihe Fotos aus
Holwerd, Mai 1918
, zum Beispiel, zeigt eine hochschwangere, blühende Mutter mit einem wohlgenährten, lächelnden Knirps in einer windigen Polderlandschaft – im Hintergrund Annetje, den Kopf in die Hand gestützt, ins Nichts starrend, ihr Gesicht beinahe weggewischt.
    Es betraf eine Wochenpflege bei einem Doktor Knip. Auf einer in der Breite durchgerissenen Karte, die neben das Foto geklebt war, stand in schwer lesbarer Handschrift:
     
    Holwerd, 11.   November 1917
    Liebe Schwester Beets,
    herzlich bedankt für das Becherchen, ich finde es so ein schönes kleines Stück. Und jetzt etwas anderes. Können Sie im April zu mir kommen, um mit dem 2.   Wicht zu helfen? Der   …
     
    Der Text brach ab, wo die Karte abgerissen war.
    Der dicke Bauch. Der zweite Wicht. Das gnadenlose Mutterglück. Was mochte es für Annetje bedeutet haben, für die Säuglinge von anderen zu sorgen, während sie auf ihr eigenes Kind verzichten musste?
    Aber wenn ich ergründen wollte, was Annetje eigentlich veranlasst hatte, im Jahr 1919 bei dem alten Oud einzuziehen und dann zwanzig Jahre lang bei ihm zu bleiben (und damit ihre Chance auf eine eigene Familie endgültig zu verspielen), dann würde ich hier beginnen müssen.
    Einen Anhaltspunkt bildete ein heiteres Nikolausgeschenk, das unerwartet bei Tante Tini auftauchte: ein kleines Album, das Schwager Jacob 1918 für seine Schwägerin angefertigt hatte, kleine Verse und Aquarelle, die eine Reihe von verbeulten, zu dick oder zu dünn geratenen Säuglingen darstellten, angeblich alle durch ›Schwester Anni‹ betreut. Es steht kein Datum dabei, doch zumindest nennt Jacob die aufeinanderfolgenden Geburtsorte der bedauernswerten neuen Erdenbürger: Sleen, Bussum, Hilversum, Holwerd, Rotterdam, Arnheim, Sloten und Ede. Der

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