Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
wenn Vera während einer Schwangerschaft krank gewesen war, diesmal mit ihrem jüngsten Sohn Piet; und wieder Monate im Krankenhaus gelegen hatte; dann muss auch Piet, genau wie Rob, dort geboren worden sein.Nierenprobleme und Schwangerschaft passen ja bekanntlich sehr schlecht zusammen. Sie brauchte sicher ständig ärztliche Betreuung.
Das Gemeindearchiv Arnheim wurde im Krieg schwer beschädigt und viele Dokumente waren verloren gegangen. Doch diese Akte wurde gefunden: Piet Vlek wurde ›zu Hause‹ geboren.
»Ja, eigentlich merkwürdig«, musste Tante Tini zugeben, als ich damit bei meinem nächsten Besuch ankam. Und ging in die Küche, um Häppchen zu backen, die zum Sherry gereicht wurden.
Das Dokument förderte übrigens noch eine weitere Überraschung zutage: dass Piet einen zweiten, niemals von jemand gebrauchten Vornamen trug – Willem.
Ich stürzte mich noch einmal auf Oma Annetjes Fotoalbum, das voll war mit Kindheitsfotos der kleinen Vleks. Kurz nach Piets Geburt posiert Vera mit dem neuen Kind. Sie sieht besser aus, als man nach so einem Leidensweg hätte erwarten können. Das Baby ist in dasselbe Kleidchen gehüllt, das auch schon ihre beiden älteren Söhne getragen haben. Sie hält es irgendwie von sich weg: Seht, dies ist mein Sohn.
Oder: Seht, dies ist
ihr
Sohn.
Fieberhafte Suche nach mehr, nach späteren Fotos, nach Briefen. Ein langer Brief von Piet an seine ›Tante‹ Ann, aus den siebziger Jahren, als sie schon im Seniorenheim wohnt. Der Ton rundum liebevoll und herzlich. Onkel Piet, der Außenseiter. Onkel Piet, der solche Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden. Der etwas Undurchsichtiges im Bergbau tat, später bei der Firma
Nederlandse Heidemij
. Der nach dem Krieg nach Indonesien gegangen war, um beim Roten Kreuz zu arbeiten. Der dort seine Frau kennengelernt hatte und Anfang der sechziger Jahre mit ihr nach Holland zurückgekehrt war. Onkel Piet, den ich eigentlich nie gut gekannt hatte.Der gern ein Gläschen trank, noch lieber zwei; der nicht mehr so gut ansprechbar war und der übers Telefon wissen ließ, dass er über alles reden wolle, außer über die Vergangenheit.
Aber es gab ja auch den Neffen Piet, der jede Ferien mit seinem Bruder Rob bei seiner Lieblingstante Ann wohnte, am Overtoom; immer gleich gekleidet, als wären sie Zwillinge. Der Gedichte für sie schrieb, Zeichnungen für sie anfertigte und von Tante Ann und ›Onkel Oud‹ immer so schrecklich verwöhnt wurde.
Onkel Piet, geboren am 15. November 1915 – der, wenn man gut hinsah, seiner Tante sehr ähnlich sah; viel mehr als seiner Mutter. Der es meinem Vater, Lepel, übel genommen hat, dass er keinen Abschied von seiner Tante nehmen konnte. Der bei Oma Annetjes Beerdigung so gerührt war.
Am 23. Dezember 1915 schrieb Annetje ihrer Direktorin:
Sollten Sie mich folgenden Monat wieder in der Frauenklinik platzieren können, wäre ich hierzu gerne bereit. Was meine Gesundheit betrifft, so hätte ich schon früher kommen können, aber meine Schwester war schwer erkrankt, so dass ich nicht wegkonnte. Die Gefahr ist zum Glück vorbei, und jetzt verlangt es mich sehr, wieder an die Arbeit gehen zu können. In der Hoffnung, dass dies möglich sei, verbleibe ich, hochachtungsvoll, Ihre ergebene A. Beets.
Merkwürdig, dass Annetje hier von einer ›Krankheit‹ ihrer Schwester spricht, nicht von ihrer Niederkunft. Kein Wort über das Kind, das am 15. November geboren wurde, wo doch Annetje die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit in Arnheim, als angehende Wochenhelferin, viel plausibler hätte begründen können.
Die Antwort der Direktorin kommt postwendend. Annetjewird nach ihrer langen Abwesenheit nicht wieder als reguläre Schwester in Dienst genommen. Die Direktorin rät ihr, Doktor Kuiper ein Ansuchen zu unterbreiten, um in zeitweiligem Dienst bleiben zu dürfen, mit dem Ziel, ihre Ausbildung als Wochenpflegerin zu vollenden. Sie fügt hinzu: Doch bei Krankheit betrachten Sie sich als umgehend entlassen.
So ist Annetje am 2. Januar 1916 zurück im Wilhelmina-Hospital. Sie schließt mit großer Eile ihre Ausbildung ab und besteht die erste Prüfungsrunde. Auf dem Gruppenfoto der frischgebackenen Pflegerinnen im Mai 1916 sitzt sie wieder beherzt inmitten ihrer Mitdiplomierten. Sie bleibt noch bis Mitte Mai im Dienst – das Wilhelmina-Hospital verliert nicht gerne seine diplomierten Kräfte – und kehrt dann zu Vera und ihren drei Jungs zurück.
Irgendetwas muss sie veranlasst
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