Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
ein Einfamilienhaus. Die Villa von Bürgermeister Manssen, dessen Kind Annetje gepflegt hat,ist einer Tankstelle gewichen. Die meisten Bauernhöfe sind verschwunden, einige umgebaut im Gartenzwergstil, aber es gibt auch welche, die unverändert geblieben sind, bewohnt durch alteingesessene Familien, die anscheinend alle miteinander verwandt sind. Darunter eine Großnichte von Doktor Hadders.
»Ich hatte einen Onkel, der Arzt in Emmen war«, erzählte sie mir. »Nach dem Wegzug des hiesigen Doktors – sein Name ist mir entfallen – hat er die Praxis hier auch noch übernommen. Das war schon schwer. Als Schul- und Gemeindearzt musste er die jährlichen Impfungen für die Kinder in der Gegend vornehmen, seine Runde per Kutsche kostete ihn Stunden, dann noch die Hausbesuche. Manchmal musste ihm Doktor van Reemst aus Sleen beispringen …«
Da war er wieder, der Doktor van Reemst. Und es fielen noch mehr bekannte Namen. Die Großnichte zeigte mir Fotos von dörflichen Szenen. Sie deutete auf eine alte Dame, die noch Mütze und Trachtenspiegel trug: »Meine Großtante Lubbers.« Es war dieselbe Frau Lubbers-Boetting, die Annetje Ende 1916 gepflegt hatte, hier noch ein paar Jahre älter: Das Foto war 1921 gemacht worden. Sie war umringt von Familienmitgliedern der Lubbers und Hadders.
»Ihre Enkelinnen, ihr Sohn Niklaas, also ein Neffe von meinem Vater …«
Der Name Niklaas kam auch in dem Brief der alten Frau vor.
»Was hat der Niklaas gemacht?«, fragte ich.
»Er war in Den Haag, im Finanzministerium.«
Ich erkundigte mich nach seiner Funktion.
»Steuerinspektor.«
Dann war also Niklaas Lubbers – geboren 1888 – ein Kollege und Altersgenosse von Piet Oud gewesen. Das
missing link
zwischen Den Haag und Zweelo war gefunden. Piet Oud stand ja ebenfalls im Dienst des Ministeriums und dürfte sichmit ziemlicher Sicherheit regelmäßig in Den Haag haben blicken lassen.
Ich fand sogar einen Einwohner, der sich noch daran erinnerte, dass in den Jahren 1916 – 1917 eine Pflegerin aus dem Westen in der Gegend tätig gewesen war. »Das muss dann über den Hausarzt gegangen sein«, vermutete er. »Wer war das doch gleich. Doktor Knip. Der war damals gerade neu hier.«
Doktor Knip hatte sich, so scheint es, im Sommer 1916 in Zweelo niedergelassen, damals war Annetje noch in Den Haag. Sollte Piet Oud bei seinem Kollegen Lubbers vorgefühlt haben, ob er vielleicht von einer Arbeitsmöglichkeit für eine Krankenschwester hier wisse? Da war Niklaas Lubbers vielleicht dieser junge Arzt eingefallen, der eine Assistentin schon brauchen konnte. Oder sonst seine Mutter mit ihrem Rheuma.
Annetje war also möglicherweise bald nach Beendigung ihrer Arbeit in Den Haag nach Zweelo gekommen. Vielleicht bereits Ende August, Anfang September, als das Land am schönsten war, die Ernte in vollem Gange, die Sonne warm und tief, die Düfte träge und schwer über dem glühenden Land.
Die Arztwohnung von Doktor Knip lag direkt neben der Herberge. Die Drent’sche Tram hielt vor der Haustür.
»Es war eine Station nach Oosterhesselen, wo man nach Assen, Emmen und Coevorden umsteigen konnte. Es war übrigens auch zu Fuß gut zu schaffen«, versicherte mir die Großnichte Hadders. »Der alte Botenpfad kürzte den Weg sogar noch etwas ab. Eine halbe Stunde, höchstens.«
Den Botenpfad gab es wohl nicht mehr, und auch das idyllische Brückchen über den Aelderstroom aus dem Ansichtsbuch war nicht mehr da. Da war jetzt eine Autobahn drübergebaut; doch die alte Herberge stand noch. Ebenfalls die Kirche etwas außerhalb des Dorfes. Die majestätische Buche dahinter breitete ihre beinahe kahlen Äste aus, genau wie imHerbst 1916. Die Kirche war unlängst restauriert worden, der alte Kirchhof größtenteils geräumt. Nur die verwitterten Grabsteine von einer Handvoll Lubbers und Hadders standen noch aufrecht im ordentlich gemähten Gras. Vor dem Eingang lag ein Opferstein aus heidnischen Zeiten. Der Zauber dieses Fleckens musste schon lange vor der Christianisierung entdeckt worden sein.
Als ich eintrat, spürte ich es: Hier herrschte die Vergangenheit.
Es ist Heiligabend 1916, und die Kirche füllt sich langsam. Auf der neuen Orgel, 1904 erbaut, erklingt
Het daghet in den Oosten
(Es tagt schon im Osten). Auf beiden Seiten der hölzernen Galerie sind zusätzliche Stühle aufgestellt; es werden Besucher von nah und fern erwartet. Annetje hat sich direkt rechts neben die Orgel gesetzt. Hier ist sie verborgen im Schatten.
Weitere Kostenlose Bücher