Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
daher so gut, uns noch Ihre Bedingungen zu schreiben und auch, auf welche Weise Sie gewöhnlich die Frage des Kommens handhaben. In der Hoffnung auf eine baldige Antwort, verbleibe ich, mit freundlichen Grüßen, Ihre J. E. Manssen Frijlinck.
Annetje muss schon ihre guten Gründe gehabt haben, derartig unattraktive Angebote zu akzeptieren, wo sie sich auf Abruf einfinden sollte und selbst dafür sorgen musste, wie sie ihre unbezahlten Wartezeiten überbrückte. Sie muss Reserven gehabt haben, um die Durststrecken durchzustehen. Geld, das vermutlich aus der Abfindung von Oud stammte.
Das Briefpapier trug den Kopf:
Bürgermeister von Sleen.
Annetje verkehrte also in den besten Kreisen. Sie ging als Wochenpflegerin von Haus zu Haus. Sie hatte hier tatsächlich eine Praxis aufbauen wollen – um in der Nähe ihres Geliebten sein zu können. In jenem halben Jahr, oder vielleicht noch länger, hatten die Geliebten sich an Orten ihrer Wahl treffen können.
Ich eilte zur Bibliothek, um mehr Informationen über die Gegend einzuholen. Es gab dort keine Kaserne, erfuhr ich. Die normalen Mannschaften wurden einquartiert, die Sergeanten und Offiziere mussten sich um ihre eigene Unterkunft kümmern. In einem Buch mit alten Ansichten von Coevorden fand ich das damals namhafte Hotel van Wely am Bahnhofsplatz, inzwischen abgerissen. Es war wohl sehr beliebt beim begüterten Bürgertum und dem Adel, ideal gelegen ander Bahn. Gut möglich, dass Piet Oud hier wohnte, wenn ihn seine militärischen Pflichten nach Coevorden riefen. Sehr wahrscheinlich, dass Annetje ihn dort von Zeit zu Zeit aufgesucht hat.
Als ich, auf der Suche nach weiteren Hinweisen, in einem Bildband von Zweelo blätterte, stieß ich auf die kleine mittelalterliche Kirche – den Stolz der Region. Ich las noch einmal, was Oma Annetje mir geschrieben hatte, in ihrem Trostbrief, als das Urteil über meine eigene Kinderlosigkeit gefällt war.
Ich selber hatte auch einmal den größten Kummer, ich dachte, ich würde nie mehr darüber hinwegkommen – weil ich nicht
allein
davon betroffen war. Nach etwa einem Jahr ging ich eines Weihnachtsabends zur Kirche, sah ganze Familien vor der Krippe voller Liebe miteinander, und da sah ich deutlich meinen Fehler: Ich war dabei gewesen, Risse in einer anderen Familie zu verursachen. Zum Glück konnten wir das später voneinander begreifen …
Zweelo, Weihnachten 1916.
Ein gutes Jahr nach der Geburt des Sohnes, den sie hatte weggeben müssen.
Von dem Mann hatte sie sich nicht getrennt.
Ich sah mir noch einmal das Gruppenfoto von der Familie Beets an, das in Den Haag gemacht worden war:
Oktober 1916.
Die neun Kinder stehen hinter ihren Eltern, ohne Zuwachs von Ehepartnern oder Kindern.
Alle zusammen
, hatte Annetje darunter geschrieben. Oktober 1916 – fast ein Jahr nach Piets Geburt. Wer von all den Brüdern und Schwestern wird wohl von Annetjes Drama gewusst haben? Vera auf jeden Fall, stolz und aufrecht in ihrem engschließenden weißen Kleid, ohne jegliche Spur von jüngst überstandener Krankheit oder Schwangerschaft, und Jopie, inzwischen eine Schönheit.Annetje selbst steht rank und schlank da, auch wenn sie schwere Brüste hat. Sie blickt zufrieden, sogar ein bisschen herausfordernd.
Da musste die Zweeloer Episode längst begonnen haben.
Zweelo revisited
Zweelo liegt zwischen alten Bäumen im glühenden Bauernland. Auch jetzt noch, achtzig Jahre danach, ist es eine Enklave in Ort und Zeit. Piet Oud hätte keinen idyllischeren Ort wählen können, um seine Geliebte unterzubringen – es sei denn, es war Annetjes Idee gewesen.
Als Vincent van Gogh 1832 das Kirchlein zeichnete, schrieb er seinem Bruder Theo:
Stell Dir eine Fahrt durch die Heide vor, morgens um 3, auf einem offenen Karren … Ich kam an einer alten Kirche vorbei, genau wie l’Église de Gréville von dem Gemälde von Millet, das im Luxemburg hängt. Hier kam anstelle des Bauern mit dem Spaten ein Hirte mit einer Schar Schafe die Hecke entlang. Im Hintergrund sah man nicht den Durchblick zum Meer, sondern nur auf das Meer von jungem Korn, das Meer der Furchen, anstelle des Wellenmeers. Der Effekt ist derselbe.
Viel dürfte sich zwischen 1883 und 1916 nicht verändert haben, als Annetje in dieser Gegend eintraf. Zwischen 1916 und heute allerdings hat sich sehr viel verändert.
Auf den Feldern wird Mais angebaut anstelle von Getreide. Am Horizont erheben sich Neubauten. An der Stelle der Arztwohnung steht jetzt
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